Peer Steinbrück nahm vor seinem Publikum kein Blatt vor den Mund. Foto: Kunert

Ex-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück redet Klartext – und verursacht fast einen Eklat.

Calw - Peer Steinbrück, Ex-Bundesfinanzminister und Ex-SPD-Kanzlerkandidat, ist schon ein Besonderer. Kaum ein Berufspolitiker polarisiert so gerne und stark wie er. Nicht anders bei seinem Auftritt in Calw zum Thema TTIP. Partei- und Fraktionskollegin Saskia Esken, die Steinbrück an die Nagold geholt hatte, konnte den vollständigen Eklat gerade noch verhindern.

Dabei hatten Steinbrück und Esken für die über 100 Neugierigen, die in den großen Saal der Calwer Tanzschule "danekdance" gekommen waren, durchaus interessante Hintergrundinformationen und einen "ent-emotionalisierten" Blick auf die Tatsachen hinter den aktuellen Verhandlungen zum geplanten transatlantischen Freihandelsabkommen mit der USA (TTIP - Transatlantic Trade and Investment Partnership) mitgebracht.

Ihre Botschaft: Es ist noch nichts ausverhandelt in diesem Mega-Handelsvertrag. Und es wird noch eher länger dauern, bis da auch wirklich einmal irgendetwas ratifiziert würde; sicher auf jeden Fall bis nach den nächsten großen Wahlen in den USA und auch in Deutschland. Außerdem gebe es "reichlich rote Linien", die die deutsche und europäische Politik für diese Verhandlungen gesetzt hätten und die eben nicht zu verhandeln seien. Gleichwohl – die in Calw anwesenden Bürger brachten, an den diversen Zwischenrufen gemessen, offensichtlich wenig Verständnis für die Glaubwürdigkeit und dauerhafte Verlässlichkeit dieser Aussagen auf.

Zustimmung zu den "roten Linien"

Wobei durchaus Zustimmung herrschte zu diesen "roten Linien" in den TTIP-Verhandlungspositionen diesseits des Atlantiks. Keine Erosion von Umwelt- und sonstigen Standards "nach unten" durch das Abkommen. Keine privaten Schiedsgerichte bei Streitfragen zwischen Konzernen und Ländern, sondern internationale Handelsgerichtshöfe nach dem Vorbild des Internationalen Seegerichtshofs in Hamburg. Kein Privatisierungsdruck durch TTIP auf kommunale und staatliche Unternehmen; wie zuletzt der (gescheiterte) Versuch ausländischer Investoren, dass (deutsche) Trinkwasser flächendeckend zu privatisieren. Keine Änderungen bei den Kulturstandards wie der deutschen Buchpreisbindung oder der Kulturförderung. Wenn die Amerikaner das nicht akzeptierten, so die eigentlich erstaunlich klare Aussage von Steinbrück und Esken, wird es dieses Handelsabkommen nicht geben.

Allerdings – da Steinbrück andererseits zugegeben hatte, dass er – wie die meisten Abgeordneten-Kollegen im Deutschen Bundestag – auch nicht zu jenen gehöre, die die streng geheimen, nur auserlesenen Abgeordneten zugänglichen USA-Papiere zum TTIP-Abkommen lesen dürften, war seine wie Eskens Glaubwürdigkeit, wirklich kompetent über den aktuellen und dauerhaften Verhandlungsstatus berichten zu können, irgendwie auch gleich wieder beschädigt. Entsprechend wenig Vertrauen zeigte sich dann in der den angenehm kurzen und präzisen Vorträgen von Esken und Steinbrück folgenden Diskussion bei den Zuhörern. Zu groß wohl die Sorge und der Verdacht, dass am Ende ob dieser unanständigen Geheimhaltung der eigentlichen Verhandlungsführer doch wieder nur irgendwelche "faulen Kompromisse" herauskommen könnten, die im Zweifel stets vor allem zu Lasten der Steuerzahlen gingen.

Für Steinbrück gibt es keine Alternative

Denn die zahlreichen, auch von den anwesenden Calwer Bürgern aus solchen Handelsabkommen zitierten Negativ-Beispiele kannten Esken und Steinbrück offensichtlich ebenfalls nicht: Die (erfolgreiche) Schadensersatz-Klage von US-Unternehmen gegen Mexiko auf Basis des dortigen Freihandelsabkommens, weil Mexiko aus Gründen der Gesundheitsvorsorge eine Steuer auf Mais-Fruktose eingeführt hatte; und damit vor allem die US-Maiserzeuger belastete. Oder die von einem Schiedsgericht gegen die anderslautende Entscheidung einer Regionalregierung in Neufundland durchgesetzte Abbaugenehmigung von Basalt in einem ausgewiesen Naturreservat. Groß offenbar die Angst in dem Land von "Wir sind das Volk!", dass dessen Souveränität durch TTIP ebenfalls massiv ausgehöhlt werden könnte.

Da waren dann Steinbrücks "Vorwürfe" an die aktuellen TTIP-Protestler, sie würden nur Protest-Rituale kultivieren (Zitat: "Manche Erregungszustände in diesem Land sind einfach nicht nachvollziehbar") Wasser auf den Mühlen der anwesenden TTIP-Kritiker. Wobei andererseits Steinbrücks Plädoyer für "die guten Seiten von TTIP" durchaus den ein oder anderen Zuhörer auch nachdenklich stimmten. Denn parallel zu TTIP verhandelten elf asiatische Staaten ein vergleichbares Abkommen, dass das globale Monopoly zu Ungunsten Europas und Deutschlands verschieben werde – und die verhandelten dort wesentlich schneller. Und Deutschland sei nunmal wie kaum ein zweites Land vom Export abhängig. Ohne Handelsabkommen geht es also nicht.

Außerdem, so Steinbrück: "Welche Alternativen haben wir?" Man müsse auch mal klar sagen, dass wir Deutschen uns ja auch ganz gerne auf den großen Bruder USA verließen, wenn es um die Lösung oder zumindest das Angehen von auch für Deutschland relevanten, außenpolitischen Konflikten gehe. "Oder wollen Sie deutsche Soldaten in Syrien sehen?" Da wären wir doch alle sehr froh, wenn die "Amis" da einen Flugzeugträger hinschickten – und nicht wir. Klar gebe es unendlich viele Dinge, die man an Amerika kritisieren könne. Und müsse. "Aber ein bisschen mehr transatlantische Beziehungen können und werden uns nicht schaden."

Vielleicht war es gut, dass bevor die Situation vollends entgleiten konnte, Kollegin Saskia Esken die Versammlung auf die Minute pünktlich abpfiff und den politischen Gast zum Aufbruch zum nächsten angesetzten Termin rief. So konnte ein weiteres Hochschaukeln der Positionen und Emotionen doch noch verhindert werden.