Das Bild zeigt die Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Zerstörung Stammheims am 20. April 1995. Obwohl Farbfotografie damals nichts Besonderes mehr war, liegt das Bild nur in schwarz-weiß vor.Fotos: Archiv Roller Foto: Schwarzwälder Bote

Geschichte: Vor 75 Jahren warfen Jagdflieger Brandbomben ab – mit verheerenden Auswirkungen / Zeitzeugen berichten

75 Jahre ist es her: Am 19. und 20. April 1945 brannte nach dem Beschuss durch Granaten und Bomben nahezu halb Stammheim ab. Der Stammheimer Ortschronist Horst Roller sammelte zahlreiche Augenzeugenberichte zu den schrecklichen Ereignissen.

Calw-Stammheim. Fünf Tote, vier schwer Verwundete. 470 Menschen wurden obdachlos, "viele konnten nur noch ihr Leben aus den Flammen retten. 96 Gebäude – und damit 41 Prozent des Dorfes – brannten ab. 120 Nutztiere kamen ums Leben. So steht es auf einer Gedenktafel, die 1995 am Stammheimer Rathaus angebracht wurde, zu lesen. Diese erinnert an die Ereignisse vor 75 Jahren, als zwölf Jagdflugzeuge am Ende des Zweiten Weltkrieges Spreng- und Stabbrandbomben sowie Phosphorkanister über dem Ort abwarfen.

Horst Roller, Stammheims Ortschronist, ehemaliger Vorsitzender und heute Beisitzer des Kreisgeschichtsvereins, schrieb dazu Erinnerungen von Zeitzeugen auf. Zwei dieser Berichte sind hier zu lesen.

Eberhard Kober (1937-2016), Holzbronner Straße "Bei unsern Nachbarn Roller arbeitete der französische Kriegsgefangene namens Kleber. Den holten wir, wenn sich unsere Kuh nicht melken ließ. Der schimpfte auf Französisch mit der Kuh, dann ließ sie sich von ihm melken.

Der einige Jahre ältere Nachbar Hermann war bereits in der Hitlerjugend und hatte eine Funktion im Jungvolk. Was uns der erzählte von der Hitlerjugend, das faszinierte uns und wir bewunderten ihn. Er hat zum Beispiel das Pulver aus den Patronen geleert, auf einen Stein geschüttet und angezündet. Das gab dann eine Stichflamme. Uns Buben hat das gefallen. Die Patronen, etwa 15 Zentimeter lang, konnte man mittels Patronengurt nebeneinander zusammenstecken. Den banden wir uns dann um den Kopf. Als es aber hieß, der Feind kommt, warfen wir unsere Errungenschaften unter die Brücke bei der Molkerei.

Bei Nachbar Hermann absolvierten wir auch die Mutprobe, denn bei der Hitlerjugend gäbe es auch die Mutprobe. Wir mussten von seinem Heubarn herunterspringen auf die Tenne, auf der fast kein Heu lag. Er selbst machte es aber nicht. Bei den andern Jungen sahen wir während ihren Spielen zu. Eines hieß ›Deutschland erklärt den Krieg‹. Das konnten wir dann auch bald spielen.

Am 20. April um 11.30 Uhr stand ich vor dem Haus. Da rief meine Mutter: "Geh rein ins Haus, du leichtsinniger Tropf." Dann kam der Angriff. Wir flüchteten in den Gewölbekeller: meine Mutter, Großmutter und wir zwei Buben. Unser Vater Eugen war fort im Krieg. Da beobachtete ich, wie der flüssige Phosphor die Kellertreppe herunterlief. Ich sagte zu meinem Bruder, ›hat’s denn den Ofen zerrissen, da kommt ja das Feuer herunter‹. Es hat geknistert und gekracht. Des brennenden Phosphors wegen konnten wir den Keller gar nicht mehr über die Treppe verlassen. Die letzte Rettung war der Lüftungskanal mit einem Querschnitt von 80 mal 80 Zentimetern. Der war vier Meter lang, ging unten vom Keller aus schräg hoch und kam im Winkel zwischen unserem Haus und der Scheuer von Christian Roller heraus. Gerade als mein Bruder aus dem Schacht hinauskroch, kommt da von oben eine Brandbombe herunter und schießt direkt vor ihm in den Boden hinein.

Als letzte war meine Oma im Schacht und blieb dort mit einer Kreislaufschwäche stecken. Sie weinte, ›lasset mich da sterben in meinem Haus. Ich will nicht mehr raus‹. Da kroch ich wieder runter zu ihr und sagte: ›Ahne, komm doch, wir brauchen dich doch‹ und heulte. Dann zogen wir sie gemeinsam heraus ins Freie.

In dem schmalen Winkel war eine unheimliche Hitze und ein seltsamer Geruch, es prasselte und krachte. Die Brandbomben müssen gleich ins Haus gefallen sein. Bei unseren Nachbarn Roller hörten wir die Pferde und das Vieh brüllen. Unsere Kühe konnten wir auch nicht mehr befreien. Nach dem Brand waren nicht alle ›ganz tot‹ und mussten noch getötet werden. Später wurden sie von irgendjemand ins Gülleloch geworfen und zugedeckt.

Wir dachten, bloß raus, es brannte ja überall. Da wir am Dorfrand wohnten, gingen wir rauf über die Wiesen ›Hinter den Gärten‹, die damals noch nicht bebaut waren bis zum Wald der Langen Nille. Meine Großmutter jammerte: ›Mein Haus, meine Heimat ist verbrannt.‹ Wir Buben haben aber in dem jungen Alter, ich mit sieben Jahren, den Ernst der Sache gar nicht recht erkannt. Seltsamerweise blieb die Kapelle der Methodisten stehen.

Unsere Hühner konnten nicht aus der Einzäunung. Die Hitze hat ihnen den Schwanz abgebrannt und sie wurden blind.

Später suchte mal meine Großmutter in der Ruine nach etwas Brauchbarem. Einen Eimer, anscheinend mit Wasser gefüllt, kippte sie um und merkte dann, dass das Schmalz war.

In kleinen Wasserschächtchen am Haus hatten wir Wurstbüchsen versteckt. Aber die waren aufgetrieben und die Wurst ungenießbar.

Unser Gewölbekeller blieb erhalten, war aber ausgebrannt. Mein Vater zog später ein Pultdach darüber. Solche Provisorien konnte man sehr viele im Ort sehen. In der Baugrube für den Neubau stießen wir auf einen riesigen Kalksteinfindling. Ein Mann machte eine Sprengladung darunter, oben deckten wir mit Reisigbüscheln ab. Dann tat es einen Riesenknall. Ein Stein flog über die Molkerei in Bühlers Hof rein. Dort stand ein Dreirädchen, auf dieses stürzte der Steinbrocken und das Dreirädchen flog auseinander."

Paul Blaich (1931-2003), Gechinger Straße, wuchs in der Bärengasse/Ecke Enges Gässle auf. Das Wohnhaus mit Scheuer wurde 2001 abgebrochen. Er erzählte 1992: "Ich wurde im Jahr 1945 14 Jahre alt und bin am 18. März konfirmiert worden. Am Sonntag, den 15. April, gingen wir Buben trotz Ausgangsverbot nachmittags den Jägerweg hinauf. Wo der Wald begann, da lag alles voll mit Soldaten auf dem Rückzug, die ganze Straße und der Wald hüben und drüben bis hinaus an die Sieben Tannen. Es lagerten hier Artillerie, Infanterie, Geschütze und Lastwagen. Auch von Gültlingen sind sie zugweise raufgekommen. Damals fragte ich mich, wie kann bloß Deutschland den Krieg verlieren, wenn man noch so viele Soldaten hat.

Dort wo die Straße von der B 296 nach Holzbronn abzweigt, sahen wir 16- bis 18-jährige Soldaten, die haben geheult wie kleine Kinder. Sie baten uns, weil die Feldküche kalt war, ob wir Brot und Most holen könnten, sie hätten schon bald acht Tage kein Essen mehr erhalten. Aber wir wagten uns nicht aus dem Wald, denn die herumfliegenden feindlichen Flugzeuge streiften fast die Baumgipfel, sahen aber offensichtlich die Soldaten unten nicht. Wenn sie eine Kehre flogen, konnten wir die Piloten genau sehen. Erst als es abends ruhiger wurde, wagten wir uns aus dem Wald. Tags wären wir umgelegt worden.

Von Samstag auf diesen Sonntag, 15. April, hatten wir Kettenhunde zum Übernachten. So wurde die Militärpolizei im Volksmund bezeichnet. Der Bürgermeister war gekommen und sagte, wir müssten die Soldaten aufnehmen. Als ich nun am Sonntagabend gerade in unsern Hof reingehe, kamen diese Soldaten aus dem Haus und ihr Hauptmann befahl: ›Sofort abfahren‹. Denn er hatte erfahren, dass die französischen Panzer von Altburg kommend Calw besetzen.

Als es Nacht wurde, gingen wir Buben zu dritt noch Mal in die Nille rauf. Jetzt hatten sich noch mehr Soldaten angesammelt. Sie lagerten auch vor dem Wald. Wir Buben gingen wieder zwischen den Soldaten durch, aber keiner sagte ein Wort. Ein paar Tage nach dem Einmarsch der Franzosen sind wir wieder rauf in den Wald. Da konnte man alles Mögliche finden: Schuhputzzeug, Gebisse, Konservendosen, Essenträger und Löffel, die in der Dunkelheit beim Rückzug verloren gingen.

Die Deutschen hatten im Büchach oberhalb der Straße nach Gechingen in den Hecken Artilleriestellungen. Dort holten wir später Kartuschen und steckten sie zusammen. Das passte prima und wir hatten ein Rohr zum Füllen des Güllenfasses.

Am 19. und 20. April

Ich stand damals in unserem Garten. Da war es mir, wie wenn in der Luft ein Strich und ein Zischen wären. Das waren die Granaten.

Am Donnerstagabend, 19. April, wurde das Forsthaus an der Ecke Holzbronner/Herrenberger Straße von der Artillerie getroffen. Auch bei Ernst Heldmayer in der Gechinger Straße schlug eine Granate ein und zertrümmerte den Kellerhals, das Gewölbe über der Treppe, das nach unten stürzte. Heldmayer konnte sich freimachen. Aber Nachbar Karl Gommel, der hier seine Tochter suchte, wurde durch die herabgefallenen schweren Sandsteine völlig zugedeckt.

Nach dem Luftangriff am 20. April steckte der Brühl voller nicht explodierter Stabbrandbomben, weil der Boden zu weich war. Wir haben sie herausgezogen, am Schraubstock eingespannt und das Pulver herausgelassen, so ein Leichtsinn. Wären die Bomben mehr in Richtung Nille gefallen, dann hätten auch die Häuser der Herrenberger Straße und Bärengasse gebrannt.

Die Stammheimer Feuerwehr besaß zwei Hydrophore. Einer stand am Brückle in der Herrenberger Straße. Lehrer Eberle gab das Kommando: eins-hoch-auf-eins. So schaffte man das Wasser herauf zum Friedensheim durch den Brühl. Die Wand auf der Seite zum Nilleweg fing bei jedem Guss an zu dampfen. Das Fachwerk auf dem Backhaus brannte ab, das Sandsteingeschoß mit den Öfen blieb stehen. Bei Müller, Holzbronner Straße, konnten wir Gegenstände aus dem Haus retten und zu uns heimtragen. Mein Vater wollte auch Vieh aus dem Stall holen. Aber die Stalltüre war von innen von losgerissenen Tieren blockiert.

Während des Brandes lief mein Vater zu Kirchherr in die Molkereistraße, wo enge verwinkelte Gebäude standen. Ich schaffte es wegen der Hitze nicht. Als er ins Haus wollte, fiel gerade der Plafond (Decke eines Raumes, Anm. d. Red.) herunter und der brennende Phosphor lief an der Wand abwärts. Kirchherr und Tochter Hedwig waren noch im Keller. Sie tauchten ihre Kleider in den Most, so dass sie damit durchs Feuer gehen konnten, sonst wären sie umgekommen.

Auf dem Platz von Heldmayer am Forstweg fand ich im Garten ein Bündel von 40 Stabbrandbomben, noch mit Drähten zusammengebunden.

Beim Brunnentrog vor der Molkerei lag nach dem Brand eine Kuh fast 14 Tage lang. Sie rauchte bis sie verkohlt war. Es war damals ein übler Geruch im Flecken.

Mein Vater war Hornist bei der Feuerwehr und musste, als der Ort besetzt war, bekanntgeben, dass Radios, Fotoapparate und Waffen im Gasthaus Waldhorn abgeliefert werden müssen. Als er wieder ins Haus zurückkam, waren zwei Marokkaner da. Die glaubten wegen der schwarzen Feuerwehruniform mit einigen Abzeichen, Wunder was sie für einen deutschen Soldaten vor sich hätten. Der begleitende Franzose erklärte ihnen dann lang und breit, dass der Mann bei der Feuerwehr sei.

Als sie fortgingen, zog mein Vater sofort den schwarzen Kittel aus und warf ihn die Kellertreppe hinunter."