Großprojekte werden in der Regel nicht aus dem Ärmel geschüttelt und toute de suite umgesetzt. Heute nicht – und vor mehr als 100 Jahren ebenfalls nicht. Der Eisenbahnbau von Balingen nach Rottweil über Wellendingen ist so ein Fall.
Wellendingen - Bis zur Eröffnung der Bahnstrecke von Schömberg nach Rottweil sollten 27 Jahre vergehen, stellte einst der Schreiber der Wellendinger Ortschronik fest. Die Grundidee im 19. Jahrhundert bestand darin, die historische Schweizerstraße, die von Stuttgart über Tübingen nach Balingen, Schömberg, Tuttlingen und Schaffhausen führte, in Form eines Schienenwegs dem modernen Verkehr zu erschließen. Dies hätte jedoch Rottweil ins Abseits gedrängt.
Schließlich stellte eine Massenversammlung in Rottweil am 10. Februar 1901 fest, dass eine Bahnverbindung zwischen Rottweil und Balingen ein dringendes Bedürfnis sei. Ein Komitee wurde gegründet; Vorsitzender war Rektor Eble aus Rottweil. Eine Eingabe an die Württembergische Kammer der Abgeordneten erfolgte. Dort wurde am 17. Mai 1902 beraten.
Ein Baubeginn hing jedoch von der Kammer der Standesherren ab – und diese schienen vornehm zu schweigen. Eine zweite Eingabe erfolgte im September 1903, eine weitere im Dezember 1904. Verwaltungswege sind schließlich keine Schnellstraßen. Beraten wurde immerhin im Januar 1906.
"Rottweil" anerkannt
Andere Quellen berichteten, dass nach dem Festzurren des Abschnitts von Balingen nach Schömberg die Strecke von Schömberg nach Rottweil im Prinzip anerkannt worden sei. Im Juli 1907 seien Geldmittel in Höhe von 500 000 Mark eingestellt worden. Wann jedoch begonnen werde, hänge mit den Bahnhofsverhältnissen in Rottweil zusammen, merkte der Wellendinger Chronist, Schultheiß Hafner, an.
Am 24. Oktober 1911 wurde schließlich die Teilstrecke Balingen – Schömberg dem Verkehr feierlich übergeben. Am 20. Dezember 1912 beschlossen schließlich die Gemeindekollegien in Wellendingen eine Anleihe von 60 000 Mark auf 50 Jahre aufzunehmen. Damit war ein wichtiger finanzieller Beitrag für den Baubeginn geleistet.
Weltkrieg stoppt Arbeiten
Am 1. Juli 1913 nahm die von Balingen nach Rottweil verlegte Eisenbahn-Sektion ihre planerische Tätigkeit auf. 1914 begannen schließlich die inzwischen genehmigten Bauarbeiten. Aber mit dem Ausbruch des Weltkriegs endeten jäh alle Arbeiten. Es gab andere Sorgen und Nöte.
Nach dem Ende des Weltenbrandes 1918 – so hat Michaela Häffner im Geschichts- und Heimatbuch Wellendingen, das im November 2005 erschienen ist, weiter geschrieben – wurde die Teilstrecke zwischen Schömberg und Wellendingen von 1919 bis 1923 fortgesetzt.
Sumpfig und rutschig
Jedoch hatten Planer und Arbeiter mit großen technischen Schwierigkeiten auf Grund der ungünstigen geologischen Verhältnisse zu kämpfen. Höhenunterschiede und schwierige geologische Schichten mussten überwunden werden. Vor allem bei Wellendingen unterhalb des Bahnhofs und im oberen Weiherbachtal musste gefährlicher Knollenmergel durchquert werden. Der Boden war sumpfig und auch rutschig.
Immerhin lag ein Finanzierungsplan im August 1920 vor. Da Wellendingen scheinbar bereits vor etwa 100 Jahren finanzstark war, lag der Gemeindeanteil von 21 500 Reichsmark hinter Rottweil auf Platz zwei. Die Summen je Gemeinde wurden zwischen 250 und 75 000 Reichsmark notiert.
Katastrophenjahr 1923
Die Bauarbeiten wurden jedoch am 15. November 1923 eingestellt. 1923 war das Jahr der Hyperinflation, ein Jahr, in dem der Bestand der jungen Weimarer Republik auf der Kippe stand. Genannt seien: die Ruhrbesetzung der Franzosen im Januar, passiver Widerstand der Reichsregierung, das Anwachsen der Inflation in nie gedachte Höhen, kommunistische Aufstände in Thüringen und Sachsen und der Hitler-Putsch in München.
Brot: 5 600 000 000 Mark
Die Einführung der Rentenmark durch Reichskanzler Gustav Stresemann stoppte die Hyperinflation. Am 20. November 1923 lautete der Devisenkurs: 4,2 Billionen Papiermark = 1 US-Dollar. Ab diesem Tag war das Ziel des Reichbankpräsidenten Hjalmar Schacht, das Geld wieder knapp und wertvoll zu machen.
Zum Vergleich: Anfang November kostete ein Brotlaib 5,6 Milliarden Mark. Viele Unternehmen unterbrachen kurz die Produktion, sobald die Löhne ausbezahlt waren, damit sich die Arbeiter sofort etwas kaufen konnten. Ein paar Stunden später hätte es für den gleichen Betrag vielleicht nur noch die Hälfte gegeben.
Großes Fragezeichen
Doch zurück zum Eisenbahnbau in Wellendingen. Sollte er aufgrund der finanziellen Notlage der Reichsbahn eingestellt werden? Die Ortschronik klagte: Wie ein großes Fragezeichen ragte der neue Bahndamm ohne Bahn in das Primtal hinein und verkündete: Vor Torschluss eingestellt.
Treff im "Schlößle"
Im Frühjahr 1926, der Eisenbahnbetrieb war auf das Reich übergegangen, gab es Hoffnung. Am Sonntag, 16. Mai, 14 Uhr, tagte eine Eisenbahn-Versammlung in Wellendingen im "Schlößle". Landtagsabgeordneter Bock, Reichstagsabgeordneter Groß und Oberamtmann Regelmann aus Rottweil waren anwesend und sprachen. Die ganze Versammlung war sich einig: Reich, Stadt und Bezirk sollten das Werk vollenden.
Die Reichsbahndirektion in Stuttgart teilte dann im August 1926 mit, dass die Arbeiten wieder beginnen würden. Das Reich übernahm die Finanzierung. Die Bauarbeiten näherten sich 1928 der Vollendung. Die Wegstrecke von Schömberg nach Rottweil betrug zwar lediglich 16 Kilometer, aber sie war wichtig, sie übernahm eine wichtige wirtschaftliche Funktion in der Region.
25. Oktober 1928
Das seit 1901 währende Bahnprojekt endete am 25. Oktober 1928 mit der feierlichen Eröffnung. Der Festzug mit den hohen Festgästen traf auf dem Wellendinger Bahnhof um 11.53 Uhr ein, wie die Ortschronik notiert hat.
Die bürgerlichen Kollegien, sämtliche Vereine und die Einwohnerschaft standen Spalier. Schulkindern wurde ein Imbiss gereicht und eine Freifahrt spendiert. Für die Einwohner standen in jeder Wirtschaft 100 Liter Bier bereit.
In einer Festschrift stellten die Verfasser fest: Die Linie habe vorläufig nur Nebenbahncharakter und stelle die Durchführung der Strecke Balingen – Schömberg nach Rottweil und damit das Verbindungsglied mit der Hohenzollernbahn dar. Jedoch werde dadurch einem abgelegenem Gebiet, das infolge ungünstiger Bodenverhältnisse keinen guten landwirtschaftlichen Erwerbsstand sichern könne, die Verbindung mit den benachbarten Industriegebieten gegeben. Damit waren Schwenningen und Ebingen gemeint.
Busse und Autos
Doch so schwer die Geburt, so groß die Begeisterung, das Ende kam bald, das Glück währte kurz. Bereits in den 30er-Jahren traten zur Eisenbahn Autostraßen in Erscheinung. Die Beförderung mit Bussen und Autos sowie Lkw für Personen und Fracht konkurrierte mit der Bahn.
Abbau der Schienen
Später scheute man eine Generalsanierung der Bahnstrecke. Die Folge: Im Jahr 1971 erfolgte der Abbau der Schienen bis nach Schömberg, die stählerne Brücke bei Wellendingen wurde demontiert, die breiten Fundamente gesprengt, das Bahnhöfle abgebrochen. Der Name Bahnhof blieb. Hier schlägt ein Herz der pulsierende Industrie der Gemeinde Wellendingen.
An die Bahnstrecke erinnert allein das auffällige Viadukt im Primtal. Überlegungen, die Strecke wiederzubeleben, gibt es knapp 100 Jahre nach der Einweihung. Debatten in den politischen Gremien der Region bringen die unterschiedlichen Sichtweisen in Balingen und Rottweil ans Licht.
Erneut 27 Jahre?
Sollte es zu einem gemeinsamen Schulterschluss kommen, würde es nicht wundern, wenn eine Umsetzung erneut 27 Jahre dauern würde – auch wenn die Zeiten mit denen von 1901 bis 1928 nicht zu vergleichen sind.