Die Messanlage Vibram im Einsatz Foto: Eppler

Seit knapp zehn Jahren erfasst ein Messgerät Abstandssünder auf der Autobahn.

Stuttgart - Autofahrer wissen, dass sie geblitzt werden können, wenn sie rote Ampeln ignorieren oder zu schnell sind. Sie sollten auch auf Abstand achten: Die vor knapp zehn Jahren eingeführte Wunderwaffe Vibram hat auf der Autobahn landesweit 13 Millionen Euro Bußgeld eingespielt.

Der 48-jährige VW-Fahrer ist überrascht. Er kann sich nicht erinnern, sich auf der Autobahn 8 zwischen dem Kreuz Stuttgart und der Ausfahrt Möhringen falsch verhalten zu haben. Bei erlaubtem Tempo 120 war er mit 119 km/h unterwegs. Doch jetzt dieser Bußgeldbescheid: 100 Euro Geldbuße plus 23,50 Euro Gebühren und zwei Punkte im Verkehrszentralregister in Flensburg. Seine Sünde: Er hatte nur 23 Meter statt der erforderlichen 59,50 Meter Abstand zum Vordermann eingehalten. Doch wer rechnet schon die ganze Zeit?

Vibram ist ein Kassenhit

Mangelnder Abstand ist freilich kein Kavaliersdelikt. Und die Faustregel vom halben Tacho eigentlich eine einfache Rechnung. Mit 13 Prozent war die Drängelei beim Autobahnpolizeirevier Ditzingen, zuständig für die Autobahnen rund um Leonberg westlich und nördlich des Kreuzes Stuttgart, die zweithäufigste Unfallursache. Beim Autobahnpolizeirevier Stuttgart, zuständig für die Strecke Kreuz Stuttgart-Wendlingen und Vaihingen-Rottenburg, ist die Lage alarmierend: Die Zahl der Unfälle wegen mangelnden Abstands ist binnen eines Jahres um 20 Prozent gestiegen. Augenfällig sind Auffahrunfälle auf der linken Fahrspur der A81 bei Böblingen. Typisch der Fall einer 25-jährigen Passat-Fahrerin, die drei Autos rammt, was drei Verletzte und 30.000 Euro Schaden fordert. Da es kurz zuvor eine weitere Karambolage gegeben hat, bricht der Verkehr zusammen - mit 21 Kilometer langen Blechkolonnen.

Kein Wunder, dass die Waffe gegen Drängler und Abstandssünder, das Video-Brücken-Abstands-Messverfahren (Vibram), für die Verkehrsüberwacher zu einem Kassenhit wird. "Seit der Einführung Ende 2001 hat Vibram auf den Autobahnen des Landes 13 Millionen Euro Bußgeld eingebracht", sagt Wilfried Schramm von der Zentralen Bußgeldstelle beim Regierungspräsidium Karlsruhe. Allein im Bereich Stuttgart kommen pro Jahr zwischen 200.000 und 600.000 Euro zusammen. Zum Vergleich: Die erste von sechs Vibram-Anlagen hatte bei der Anschaffung gerade mal 130.000 Mark, also umgerechnet etwa 66.500 Euro gekostet.

Dabei war Vibram vor knapp zehn Jahren vor allem wegen einer Serie von Lkw-Auffahrunfällen eingesetzt worden. An der Steigung der A8 zwischen Möhringen und dem Kreuz Stuttgart bei Rohr hatte es 74 Lkw-Unfälle mit 2,1 Millionen Euro Schaden, neun Schwer- und 46 Leichtverletzten gegeben. Die mobile Drängler-Überwachung sollte die Brummifahrer dazu zwingen, an der Steigung 50 Meter Abstand einzuhalten.

120 Abstands-Sünder pro Stunde

Das Prinzip: Eine Kamera späht von einer Brücke aus mögliche Abstandssünder auf einer Strecke von 300 bis 500 Metern aus, wobei ein Computerprogramm über Messlinien und Weg-Zeit-Berechnung die Kandidaten ausfiltert. Ein Beamter löst eine zweite Kamera am Fahrbahnrand aus, die das Kennzeichen des Sünders festhält. In der Praxis zeigte sich: 100 Lkw-Fahrer wurden binnen einer Stunde als Drängler erwischt - doch bei Autofahrern auf der linken Spur war alles noch schlimmer: Hier waren es 120 Sünder pro Stunde.

2002, im ersten vollständig erfassten Jahr, wurden in Stuttgart knapp 9200 Abstandssünder erfasst. Landesweit waren es knapp 20000. Die Zahlen schwankten in den Folgejahren massiv. Was aber eher an der Häufigkeit der Einsätze lag. "Nach 132 Vibram-Einsätzen 2009 waren es dieses Jahr nur etwas über 100", sagt Polizeisprecher Frank Natterer über die Arbeit des Autobahnpolizeireviers Stuttgart. Natterer erklärt dies mit mehr Staus, die Messungen überflüssig machen, und einem längeren Winter in diesem Jahr. Wilfried Schramm von der Bußgeldstelle hat aber von den Revieren im Land gehört, "dass dies mit mangelndem Personal zusammenhängt".

Nur 15 Meter Abstand zum Vordermann

Freilich war die Abstandsmessung einige Monate rechtlich umstritten. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Herbst 2009 bemängelt, dass Autofahrer in Mecklenburg-Vorpommern ohne ausreichende Rechtsgrundlage und ohne konkreten Tatverdacht ins Visier einer Videoüberwachung gerieten. Die Folge war eine Flut von Einsprüchen gegen Bußgeldbescheide.

"Zwischen November 2009 und Februar 2010 gab es so gut wie keine Anzeigen mehr", sagt Schramm. Bis die Justiz feststellte, dass das Prinzip von Vibram nicht gegen den Datenschutz verstößt. Ein Autofahrer, der auf der A8 bei Rohr bei 111 km/h nur 15 Meter zum Vordermann eingehalten hatte und sich gegen ein einmonatiges Fahrverbot wehren wollte, scheiterte Anfang 2010 vor dem Oberlandesgericht Stuttgart. Der 4. Senat stellte fest, dass das System Vibram anders konzipiert sei als das Verfahren in Mecklenburg-Vorpommern. Bei der Übersichtsaufnahme der ersten Kamera auf der Brücke seien weder die Identität des Fahrers noch das Kennzeichen des Fahrzeugs erkennbar. Damit werde nicht gegen das Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung verstoßen.

Seither ist die Autobahnpolizei wieder stärker den Dränglern auf der Spur. Im ersten Dreivierteljahr wurden im Bereich Stuttgart Bußgeldbescheide von über 350.000 Euro verschickt. Der Stuttgarter VW-Fahrer, der keine 59,50, sondern 23 Meter Abstand einhielt, wird 123,50 Euro beisteuern.