Michael Theurer wägt neu ab: Im Zweifelsfall geht das Privatleben jetzt vor. Foto: Graner

Nach der viel zu frühen Geburt seiner Tochter hat der Berufspolitiker Michael Theurer neue Prioritäten gesetzt.

Oberndorf - Nur noch wenige Tage bis zur Bundestagswahl. Der Kampf um die Stimmen der Bürger tobt heftig, der Ausgang am 26. September ist offener denn je. Eine Zeit, in der Berufspolitiker zur Hochform auflaufen, kaum schlafen, wenig zu Hause und ständig unterwegs sind, um unentschlossene Wähler noch zu überzeugen.

Doch bei einem dieser Spitzenpolitiker ist es dieses Mal völlig anders. Michael Theurer aus Horb im Kreis Freudenstadt, der Landeschef der Liberalen und Bundes-Vize der FDP, hat die Koordinaten seines Lebens komplett anders ausgerichtet. Von heute auf morgen. Obwohl seine Partei gerade mächtig Rückenwind erfährt und die Umfragen der FDP ein glänzendes Ergebnis vorhersagen. Das Wahlkampf-Schlachtross Michael Theurer ist in diesen hitzigen Tagen fast ganz aus der Öffentlichkeit verschwunden.

Der Grund für dieses Abtauchen ist sehr klein. Viel, viel zu klein – und liegt seit Wochen im Brutkasten einer Kinderklinik. Die Tochter von Michael Theurer und seiner Frau Antje Giede-Jeppe kam im Hochsommer zur Welt, errechneter Termin war im Spätjahr gewesen. Es ist ihr zweites Kind, ein Sohn war 2019 zur Welt gekommen. Wenn man den Horber heute fragt, was in seiner langen Berufslaufbahn vom Oberbürgermeister bis zum Bundestagsabgeordneten die schönste Zeit war, denkt er nicht lange nach: "Die schönste Erfahrung meines Lebens ist, dass ich mit 51 Papa werden durfte. Das größte Geschenk meines Lebens."

Michael Theurer sitzt im Konferenzraum des Schwarzwälder Boten in Oberndorf, es ist einer von ganz wenigen seiner Besuchstermine im Wahlkampf. Der Liberale analysiert im Gespräch mit der Redaktion die aktuelle Lage in Berlin, wettert gegen die Bundesregierung, blättert die FDP-Standpunkte auf den Tisch. Wahlkampf.

Dann vibriert Theurers Handy. Es ist seine Frau, ein kurzes Gespräch, alles in Sekunden geklärt. Ein Aufatmen. Bei jedem Anruf schwinge Sorge mit, schnauft Theurer kurz tief. Die Koordinaten seines Lebens, sie sind jetzt voll auf das Leben seiner Tochter ausgerichtet. "Und dafür gibt es in der Öffentlichkeit großes Verständnis. Ich bekam viele positive Rückmeldungen, seit ich die Geburt unserer Tochter öffentlich gemacht und erklärt habe, weshalb ich in diesem Wahlkampf kürzer trete", sagt er. "Alles andere würde auch niemand verstehen. Wenn ein Politiker in dieser Situation die Priorität nicht richtig setzt, dann müsste man Zweifel an seiner persönlichen Integrität bekommen", ist der zweifache Vater sicher.

Die Eltern handeln nach dem Rat, nur noch von Tag zu Tag zu denken

Details bleiben privat. Aber Theurer will zumindest berichten, dass es dem Frühchen den Umständen entsprechend gut gehe, das Kind zunehme, Hoffnung bestehe. Überhaupt hätten er und seine Frau, eine Ärztin, von anderen Betroffenen geraten bekommen, nur noch von Tag zu Tag zu denken. "Man konzentriert sich automatisch auf das Wesentliche", sagt Theurer. "Wenn ich diesen kleinen Menschen, diese zwei Handvoll Leben, im Brutkasten sehe, zwingt mich das zu einer ganz anderen Perspektive." Durch ihren Beruf als Klinikärztin habe ihn seine Frau allerdings schon seit Längerem geerdet. "Ich war durch sie schon vor der Frühgeburt ziemlich nah dran an dem, was Leben ausmacht."

Der Lindner-Vize hat seine Termine im Wahlkampf schlagartig massiv heruntergefahren, tritt außerhalb Baden-Württembergs fast gar nicht mehr in Erscheinung. Und auch hier, im Land, bekommt längst nicht jeder Kreisverband Termine mit dem FDP-Chef Baden-Württembergs. An Wahlkampftagen versuche er, einfach mehr Besuche unterzubekommen als sonst. Das klappe aber natürlich meist nicht. Und manche Termine fallen einfach kurzfristig aus oder laufen mit Ersatzrednern.

Immerhin: In Karlsruhe, wo er als Direktkandidat für die Freidemokraten kandidiert, will er auch für die Bürger persönlich präsent sein. Er stellt einen "Impfostand" in die Fußgängerzone, bietet dort statt Werbe-Kugelschreibern Corona-Impfungen, die ein Mediziner an Besucher spontan verabreichen soll. Der Kampf gegen das Virus ist ihm wichtig. Und der Kampf um Bürgers Stimme auch. Denn so ganz ohne Wahlkampf hält es ein Berufspolitiker wie Michael Theurer dann eben doch nicht aus.

"Nur eine starke Südwest-FDP ist ein Garant für eine starke Bundes-FDP", betont er. Anders herum formuliert: "Wenn die Bundes-FDP auf 12 Prozent liegt, dann müssen wir in Baden-Württemberg zwei, drei Prozentpunkte darüber liegen" – zumal er 15 Prozent im liberalen Stammland für nicht ganz unrealistisch hält.

Trotz aller Einschränkungen will er dafür kämpfen und überzeugen – nicht nur, indem er das liberale Glaubensbekenntnis aus dem Effeff durchdekliniert: Entlasten, Entfesseln und Investieren. Das gilt übrigens nicht nur für die klassische FDP-Klientel der Mittelständler und Freiberufler, sondern auch für die kleinen Bürger mit geringem Einkommen. Und im Gleichklang mit seinem Parteichef Christian Lindner dürfen natürlich auch die beiden wichtigsten Leitplanken für eventuelle Koalitionsverhandlungen nicht fehlen: Steuererhöhungen sind tabu, und an der Schuldenbremse wird nicht gerüttelt.

FDP hat "den Frieden mit dem Mindestlohn, wie wir ihn haben, gemacht"

Wie ernst Theurer das nimmt, wurde am Donnerstagabend auch bei der SWR-Wahldebatte aller Südwest-Spitzenkandidaten deutlich. Der liberale Landeschef lässt kein gutes Haar an den Plänen von SPD, Grünen und Linken für eine Vermögensteuer. Sein durchaus griffiges Argument: Das Vermögen vieler kleiner Unternehmen stecke in den Maschinen, schilt der 54-Jährige die Konkurrenz. Eine zusätzliche Abgabe würde viele Familienbetriebe daher zum Verkauf von Anteilen zwingen.

Theurer hält das für fatal und warnt drastisch vor den Folgen: "Wer in die Substanz eingreift, der betreibt eigentlich das Geschäft von Heuschrecken." Ohnehin hätten Finanzwissenschaftler längst ausgerechnet, dass eine solche Vermögensteuer zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von sechs Prozent führe und zu möglichen Steuerausfällen in Höhe von 39 Milliarden Euro.

Es klingt durchaus plausibel, was der ehemalige Landtags-, Europa- und jetzige Bundestagsabgeordnete da mit Eifer und Leidenschaft erzählt. Greift der alte Klientelvorwurf, die FDP denke nur an Besserverdienende, also doch? Mitnichten, das wäre zu kurz gesprungen. Denn Minuten später verblüfft Theurer beim Besuch unserer Redaktion mit einem Bekenntnis, das die Tür zu einem sozial-liberalen Bündnis nach der Wahl in gut einer Woche trotz heftiger schwarz-gelber Bindungskräfte mindestens offen hält.

"Wir haben den Frieden mit dem Mindestlohn, wie wir ihn haben, gemacht – und zwar, weil er von einer unabhängigen Kommission, in der die Tarifpartner und Experten sitzen, festgelegt wird", sagt Theurer. Mehr noch: Er räumt ein, dass das Verfahren verträglich sei und nicht zu mehr Arbeitslosigkeit im Niedriglohnbereich geführt habe. Jene, die ihn eingeführt haben, hätten recht gehabt – und nicht die FDP.

Beim Einkommen von Krankenschwestern muss sich etwas ändern

Das ändert allerdings nichts daran, dass Theurer den "parteipolitischen Überbietungswettbewerb" beim Mindestlohn für ebenso falsch wie fatal hält. Da renne der eine rum und fordere 10 Euro pro Stunde, der nächste Kandidat bietet 11 – und selbst wenn die Regierung mit 14 Euro ums Eck käme, würde die Linke garantiert 15 Euro fordern. Deshalb solle diese Debatte doch möglichst dort gelassen werden, wo sie hingehöre: in die entsprechende Kommission.

Minuten später kehrt der Fokus indirekt dann wieder zur kleinen Tochter zurück. In vielen Gesprächen mit den Krankenschwestern der Neonatologie – personell zumeist unterbesetzt und zugleich chronisch überlastet – sei ihm klar geworden, dass die Politik, er spricht von "wir", hier beim Einkommen etwas ändern müsse. Es könne nicht sein, dass das Einstiegsgehalt einer Grundschullehrerin höher sei als das maximal erreichbare Gehalt einer Krankenschwester am Ende ihrer Berufslaufbahn. Da seien die Schwerpunkte nicht richtig gesetzt.

Das klingt zwar nicht nach klassischer FDP-Lehre; zumindest dann nicht, wenn man den Vorurteilen vieler Bundesbürger folgt. Aber es zeigt doch, wie eng verwoben das Private und die Politik manchmal sind, dass alles mit allem zusammenhängt – und dass ein kleines Kind mitunter nicht nur erdet, sondern den ganzen Blick auf die Welt verändert.