In ganz Deutschland blicken politische Beobachter vor der Bundestagswahl auf Stuttgart. Zu dem Dutzend Wahlkreise in der Republik, die besonders interessant erscheinen, werden auch die beiden Stuttgarter gezählt, vor allem der hiesige Wahlkreis I. Die englischen Medien haben ebenfalls Lunte gerochen.
Stuttgart - Fällt den Grünen jetzt auch noch eines der beiden Direktmandate in Stuttgart für den Bundestag zu? Nachdem sie schon zur stärksten politischen Kraft im Rathaus aufstiegen, das Amt des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg errangen, drei von vier Stuttgarter Direktmandate bei der Landtagswahl 2011 und den OB-Sessel in Stuttgart? Das ist vor der Wahl am 22. September die entscheidende Frage in der Landeshauptstadt – und neben der alles beherrschenden Frage nach der künftigen Regierung in Berlin in ganz Deutschland und im Ausland von Interesse.
Stefan Kaufmann (CDU), der den Wahlkreis Stuttgart I bisher als direkt gewählter Abgeordneter im Bundestag vertritt, fühlt sich offenbar geschmeichelt. Selbst von den englischen Fernsehmachern von BBC World News sei er auf seinen Wahlkreis angesprochen worden, lässt er immer wieder gern wissen. Außerdem hat sich ein Politikbeobachter der britischen Botschaft in Berlin bei Kaufmann angemeldet.
So schmeichelhaft das sein mag – das Dumme ist nur: Sollte Cem Özdemir (Grüne) am 22. September in diesem Wahlkreis tatsächlich die meisten Erststimmen verbuchen, was nicht abwegig erscheint, müsste Kaufmann sein Büro in Berlin räumen.
Die Erststimme, das ist jene Stimme, mit der jede Wählerin und jeder Wähler einen Bewerber im heimischen Wahlkreis unterstützen kann. Die Zweitstimme, die man auch noch verteilen darf, entscheidet über das Abschneiden der Parteien und politischen Gruppierungen insgesamt – und damit über die Bundesregierung. Wer bei den Erststimmen nicht ganz vorn liegt, kann unter Umständen noch mittels eines Zweitmandats aus seinem Wahlkreis in den Bundestag einziehen. Zweitmandate werden an die Parteien in dem Verhältnis verteilt, das sich aus ihrem Abschneiden bei den Zweitstimmen ergibt. Wer innerhalb der Parteien zum Zuge kommt, ergibt sich aus den Kandidatenlisten der Parteien für die Wahl.
Jetzt will Özdemir auf die Überholspur
Seine Absicherung auf der Landesliste der CDU sei nicht gut genug, damit er durch ein Zweitmandat im Bundestag bleiben könnte, sagt Kaufmann. Höchstens später, wenn manche der neu gewählten CDU-Abgeordneten vorzeitig aus dem Bundestag ausscheiden, könnte er nachrücken.
Schon 2009, als Kaufmann zum ersten Mal kandidiert hatte, war Özdemir ihm dicht auf den Fersen. Mehr Prozente als der türkischstämmige Schwabe holte im Land kein Grüner. 6402 Stimmen mehr reichten Kaufmann aber zum Direktmandat. Jetzt will Özdemir auf die Überholspur. Doch wird das Gesetz der Serie für die siegesgewohnten Grünen wirklich noch einmal weiterwirken? Oder reicht Kaufmann der Rest des Platzvorteils, dessen sich die CDU in diesem Wahlkreis einst erfreute, zum Sieg?
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Zu Zeiten, da bürgerliche Kreise noch nicht so stark grün wählten, galt der Wahlkreis Stuttgart I als bürgerlich strukturiert und als CDU-Revier par excellence. In neuerer Zeit sorgte nur 2002 ein SPD-Kandidat für eine Zäsur: der renommierte Umweltwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker. Dass der Novize Kaufmann 2009 das zuletzt 2005 von Jo Krummacher für die CDU eroberte Direktmandat verteidigte und die bundespolitisch unerfahrene Karin Maag im Wahlkreis Stuttgart II die erfahrene SPD-Abgeordnete Ute Kumpf ausstach, wurde von der Stuttgarter CDU wie ein grandioser Sieg gefeiert.
Allerdings: Nie zuvor waren die Direktmandate in diesen beiden Wahlkreisen den Gewinnern mit so niedrigen Erststimmenanteilen zugefallen. Die Stärke der CDU war vor allem die Schwäche der früheren Hauptkonkurrentin SPD. Und die sagenhaften Zuwächse der Grünen hatten auf so niedrigem Niveau eingesetzt, dass sie im Wahlkreis I bei den Erststimmen und im ganzen Stadtgebiet Stuttgart bei den Zweitstimmen die SPD überflügeln konnten, aber die CDU nicht entthronen.
Maag in deutlich komfortableren Situation als Kaufmann
Selbst in SPD-Kreisen wird angenommen, dass Ute Vogt im Wahlkreis Stuttgart I auch diesmal nicht entscheidend im Kampf um das Direktmandat mitmischen kann. Alle rechnen mit einem Duell zwischen dem – so das Politmagazin „Cicero“ – „ersten bekennenden schwulen Bundestagsabgeordneten der CDU und dem Bundesvorsitzenden der Grünen“. Wahlhilfe von Vogt gibt es für den Grünen, was das Buhlen um die Erststimmen angeht, nicht. Die Chemie scheint nicht zu stimmen zwischen Vogt und Özdemir. Kaufmann dagegen verweist immer wieder auf gute Beziehungen zu Vogt.
Im Wahlkreis Stuttgart II ist Karin Maag in einer deutlich komfortableren Situation als Kaufmann. Die Ex-Büroleiterin von OB Wolfgang Schuster und spätere Juristin der Landtagsverwaltung tritt zum zweiten Mal an – nachdem sie 2009 bei einer günstigen politischen Großwetterlage verhindert hatte, dass die profilierte SPD-Rivalin Ute Kumpf zum vierten Mal das Direktmandat holt.
Dem neuen, politisch wenig erfahrenen SPD-Kandidaten Nicolas Schäfstoß, Referent beim Statistischen Landesamt, könnte von seiner Partei schon die Verteidigung des zweiten Platzes als Achtungserfolg angerechnet werden. Denn die Grünen-Abgeordnete Birgitt Bender hat 2009 in diesem Wahlkreis mit vielen Beschäftigten der Automobilindustrie schon deutlich zulegen können.