Ursula Krechel gibt den Stummen eine Stimme Foto: Helmut Fricke/dpa

Ursula Krechel entwickelt in ihrer Dankesrede für den Büchner-Preis eine Poetik des Verborgenen – und lüftet ein Geheimnis.

Welchen Wesenheiten aus dem Büchner-Kosmos ist man bei den Ehrungen für die vielleicht angesehenste Auszeichnung der deutschsprachigen Literatur nicht schon begegnet? Unvergessen die Geschichte der Zählpferdchen, die vor einigen Jahren Clemens J. Setz bei dieser Gelegenheit aus der Jahrmarktszene des „Woyzeck“ befreit hat: Tiere, die den erstaunten Zuschauern mittels Klopfen ihres Vorderhufs verblüffende Rechen- ja sogar Buchstabierleistungen vorführen konnten, waren bis ins 20. Jahrhundert keine Seltenheit und haben auch bei Kafka und Rilke ihre Spuren hinterlassen.

 

Wer seine Kanonisierung im Darmstädter Staatstheater erfahren möchte, wo die Akademie für Sprache und Dichtung die Verleihung des Büchner-Preises zelebriert, muss nicht nur ein beachtliches Lebenswerk vorweisen können. Er muss auch einen originellen Zugang zu dem Namensgeber unter Beweis stellen. Er? Allzulange war dies das zumeist zutreffende Pronomen zur Bezeichnung der Geehrten. Erst in der letzten Zeit ist immer wieder auch die ein oder andere Sie dazu gekommen.

In diesem Jahr ist das mit Ursula Krechel eine Autorin, die, wie die Schriftstellerin Sabine Küchler in ihrer Laudatio ausführt, in ihrem Schaffen in allen Gattungen mit unbestechlichem Blick das Verborgene zur Sprache bringt, und sich den „traumatischen Vergessensleistungen der deutschen Geschichte“ entgegenwirft. Was das bedeutet, stellt die Gewürdigte sogleich in ihrer Dankesrede unter Beweis. Denn es ist doch erstaunlich, dass man erst jetzt an dieser Stelle auch einmal Georg Büchners Schwester Luise begegnet. 1855, 18 Jahre nach dem Tod des berühmten Bruders, veröffentlichte sie ihr Manifest: „Die Frauen und ihr Beruf“, in dem sie für weibliche Freiheit, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit eintrat. In Cottas „Morgenblatt“ erscheint wenig später ihre Studie über Charlotte Corday, die den radikalen Jakobiner Marat ermordet hatte, weil er in ihren Augen für den Terror verantwortlich war. „Eine Attentäterin aus Gewissensgründen?“, fragt Krechel, um Cordays Berufung näher zu bestimmen. Wollte Luise eine Lücke schließen, die der Bruder in seiner geschichtsphilosophischen Erkenntnisarbeit zu dem Drama „Dantons Tod“ gelassen hat?

Ursula Krechel: „Alle Einzelnen zählen“

Und wie steht es darin überhaupt mit den Frauenfiguren? Der Part von Dantons Geliebter, der Grisette Marion, in dem sie von ihrer Lust und Entwürdigung spricht, ist nur wenig kürzer als die Monologe von Robespierre und St. Just. Trotzdem schweige die Büchner-Forschung über sie, allenfalls sei die Sünderin eine Spielfigur im patriarchalen Mythos. Doch der junge Büchner, Gründer der Gesellschaft der Menschenrechte, meine auch sie: „Schreiben heißt nicht nur, den Stummen, stumm Gemachten, unter Redeverbot Stehenden eine Stimme zu geben, sondern dieser Stimme eine Glaubwürdigkeit zu geben, dass sie stimmt“, sagt Krechel.

Um noch einmal auf die Zählpferdchen zurückzukommen: Auch hier geht es um Zahlen. Ihre Rede beginnt die Büchner-Preisträgerin mit der Gewaltexplosion eines Ereignisses, dessen hunderttausende Tote unter einem Spruchband wie „Leipziger Völkerschlacht“ eingeordnet werden. Aber Zahlen erzählen nicht: „Alle Einzelnen zählen, und jeder und jede Einzelne ist nicht vereinzelt.“

Sägemehl auf Blutspuren

Auch heute ist man wieder Zahlen konfrontiert, über deren Blutspuren die Politik wie Sägemehl salbungsvolle Worte aus dem Wörterbuch der Euphemismen streue. Schreiben heiße, formuliert Krechel ihre Poetik aus, „den Tod, den gewaltsamen Tod denken, an Lebensbedingungen erinnern, die töten“, heiße, bedrängende Fragen zu stellen und sie nicht beantworten zu können.

Durch ihre Rede geistert ein Mann mit rotem Barett, den Büchner in einem Brief an die Familie erwähnt: eine Figur frühsozialistischer Hoffnungen, mit friedlichen Mittel eine gerechte Weltordnung zu erreichen, eine Utopie der Liebe. Am Schluss begegnet er wieder vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg, erschöpft vom Einklagen der Menschenrechte: „Er setzt an zu einer Rede, sein Mund bewegt sich, er gestikuliert, doch der Ton ist abgedreht.“

In dieses Schweigen platziert Krechel ein Geständnis: Auch sie sei einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten, vor fünfzig Jahren, also verjährt. Damals kursierte ein Flugblatt, das gegen die Kriminalisierung von Frauen protestierte. Die Polizei ermittelte wegen des Verdachts auf Beihilfe zur Abtreibung. Krechel zeichnete dafür verantwortlich, allerdings unter anderem Namen – Luise Büchner. Man meint in diesem Moment den leichten Schimmer eines roten Baretts über ihr wahrzunehmen.