Ein paar Mal falsch abgebogen – wohin das führt zeigt der italienische Autor Davide Coppo in seinem Debüt, dessen Titel wie eine Drohung klingt: „Der Morgen gehört uns“.
In Ländern, die eine problematische politische Entwicklung nehmen, ist die Literatur umso interessanter. Weil sie in Bereiche dringt, die sich anderen Beschreibungsformen entziehen, jene wogende Hinterwelt aus Gefühlen, Unsicherheiten, Enttäuschungen und Ressentiments, die im Zweifel darüber entscheidet, welche Richtung man einschlägt. Im Falle des jungen Ettore in Davide Coppos Roman „Der Morgen gehört uns“ ist das eine Folge von Abzweigen, die immer weiter nach rechts führen. Wie die literarische Einbildungskraft in diesem Fall mit der Wirklichkeit zusammenhängen könnte, enthüllt der Autor in seiner Danksagung am Schluss: „Alles in diesem Buch ist Fiktion, wirft jedoch seine Schatten zurück auf eine reale Vergangenheit.“
Die Ich-Perspektive ist das Instrumentarium der Wahl zur Analyse sozialpsychologischer Prozesse, und das Debüt des Sportjournalisten und Betreibers einer Mailänder Bar ist in gleich mehrfacher Hinsicht ein analytischer Roman: Nicht nur, weil er eine Befindlichkeit unter die Lupe nimmt, sondern weil schon zu Beginn geschehen ist, was der kurz vor seinem 18. Geburtstag stehende Jugendliche mit einem neunmonatigen Hausarrest abzubüßen hat, und sich erst nach und nach enthüllt, wie es dazu kam. So wiederholt der Roman in seiner Handlungsstruktur die Frage, die sich im Ganzen, auch über Italien hinaus, stellt: worin bloß liegt die Attraktivität für junge Leute, sich Gruppierungen wie jener Federazione anzuschließen, einer neofaschistischen Jugendorganisation, in die Ettore vier Jahre zuvor aufgenommen worden ist.
Im Gleichschritt in eine glänzende Zukunft
Ettore kommt aus gutem Haus, keine prekären Verhältnisse, die erfolgsorientierte Mutter hat sich ich in die Führungsriege einer lombardischen Bank emporgearbeitet, der Junge besucht ein humanistisches Gymnasium. Im Geschichtsunterricht sieht er zum ersten Mal die Massenchoreografien aus einer Zeit als Italien sich angeschickt hat, im Gleichschritt auf eine glänzende Zukunft zuzumarschieren. „Alles schien zu laufen wie geschmiert, alles bewegte sich in dieselbe Richtung“ – für den orientierungslosen Teenager kommen noch erste sexuelle Berührungen im Dunkel des Videoraums dazu, um an den komplizierten geometrischen Figuren unter Mussolinis Regie Gefallen zu finden.
Ansonsten das Übliche: Pubertät, Eltern-Trouble, Hormone, die eine animalische Aggressivität befördern – und dann auch noch das Unterlegenheitsgefühl, beim Wuchs der Schamhaare nicht mit den Älteren mithalten zu können. Die Faszination des Bösen gedeiht auf denkbar banaler Grundlage.
Perspektivisches Erzählen hat den Effekt, dass es die Lesenden unfreiwillig zu Komplizen macht, und eine spezifische Form der Komplizenschaft ist der Schlüssel zu den Versammlungen, in die Ettore eines Tages von dem charismatischen, einige Jahre älteren Giulio eingeführt wird. Das Gefühl dazuzugehören, an etwas Heimlichem, Verbotenem mitzuwirken, scheint zunächst wichtiger als eine genau Vorstellung der politischen Ideen, die hier ausgetauscht werden. Im Vordergrund stehen Fragen der Ästhetik, der Identität und das verkappte erotische Phantasma von Männerbünden.
All das könnte auch in der Affektdynamik von Fußballvereinen, Fangruppen, Jugendbanden ausgetragen werden, hier kommt die Ideologie dazu: Ettore liest viel, Bücher, aber auch Websites, Online-Lexika und einschlägige Foren, über Freiheitskämpfe, Tschechoslowakei, Irland, Palästina. Aus verschiedenen Versatzstücken wird ein Weltbild zusammengezimmert, gegen Kommunismus, Imperialismus, Kapitalismus, Globalisierung, den bürgerlichen Staat, eigentlich wie die Linken, die andere Gang, die von einem Pisskopf genannten Blondschopf angeführt wird.
Kristallklarer Hass
Bei aller Gegnerschaft sieht sich Ettore anfangs noch in seinen Anschauungen bestätigt, dass woran er und seine Kameraden glauben, quer über die politischen Fronten verläuft. Später reicht der kollektive Adrenalin-Kick der bei Demonstrationen in die Höhe gereckten rechten Hand unter dem Banner des Keltenkreuzes und das Selbstgefühl des Hasses – ein bewusst gezüchteter kristallklarer Hass, der nur darauf wartet, sich zu entladen. Bald ist der junge Neofaschist soweit, Posts zu formulieren, die wie das europapolitische Programm der heute regierenden Fratelli d’Italia klingen, „ein Europa der Völker, einig auf den heiligen Pfaden der Tradition“. Doch das reicht ihm nicht.
War er zunächst überzeugt, mit Rassismus oder Antisemitismus nichts zu schaffen zu haben, schmettert er nun Lieder „gegen das Gold, gegen die Rasse der Kaufleute“. Schließlich sympathisiert er mit Gruppen, die die Erschaffung eines neuen, unbestechlichen, spirituellen, leuchtenden Menschen mit zerschmetterten Nasenbeinen und gezückten Messern erkämpfen. Und so landet Ettore am Ende da, wo man ihm am Anfang begegnet: im neunmonatigen Hausarrest.
Coppos Roman ist kein Rechenschaftsbericht, der eine Entwicklung nachvollziehbar macht, als läge darin irgendeine innere Logik. Als Ettore sich später fragt, wann alles angefangen hatte, wo der Point of no Return gewesen sein mag, stellt er fest, dass sich das unmöglich sagen lässt: „Es waren einfach zu viele Abzweigungen gewesen, und alle zu unauffällig, unübersichtlich oder äußerlich unschuldig.“
Und hier wirft diese Fiktion ihren bedrohlichen Schatten über die Geschichte einer juvenilen Verirrung hinaus. Die italienische Gesellschaft hat schon viele solcher unauffälligen, unübersichtlichen, äußerlich unschuldigen Abzweige genommen. Andere sind dabei, zu folgen. Ein neunmonatiger Hausarrest klingt harmlos, doch der Schoß ist fruchtbar, aus dem der neue Menschen kriechen soll, von dem Ettore und die Seinen träumen.
Davide Coppo: Der Morgen gehört uns. Übersetzt aus dem Italienischen von Jan Schönherr. Kjona Verlag. 240 Seiten, 24 Euro.
Info
Autor
Davide Coppo, 1986 in Mailand geboren, ist Chefredakteur der Sportzeitschrift „Rivista Undici“ und schreibt daneben u. a. für GQ. Er lebt in Mailand und ist Inhaber einer kleinen Weinbar. „Der Morgen gehört uns“ ist sein erster Roman.