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Flüchtlinge haben's gut. Sie werden vom deutschen Staat nach Kräften gepampert, während der deutsche Steuerzahler am langen Arm verhungert. Stimmt so. Oder doch nicht?

Und der Gewinner ist: "Flüchtlingsfamilie endlich glücklich vereint". Kaum ein Artikel auf unserer Seite wurde in letzter Zeit so häufig geklickt, wie dieser - von kommentiert mal ganz zu schweigen.

In der Online-Redaktion sorgt das erst einmal für hochgezogene Augenbrauen. Warum denn bloß dieser Artikel? Im Text geht es nicht um einen tödlichen Verkehrsunfall, es gibt keine Fotos von sich lasziv im Stroh räkelnden Jungbäuerinnen und  - was was das Ganze noch mysteriöser macht - auch keine von niedlichen Kätzchen. Stattdessen wird die Geschichte einer syrischen Flüchtlingsfamilie erzählt. Bis vor Kurzem hatten Yahya Aljenid, seine Frau Lamyaa Abo Ajoz und die fünf Kinder in getrennten Wohnungen gelebt - aus Platzmangel. Nun sind sie wieder unter einem Dach vereint. Bewohnen ein Einfamilienhaus, jedes Kind hat ein eigenes Zimmer. Schön für die Familie, keine Frage. Aber - was das Klickpotenzial angeht - keinesfalls hitverdächtig. (Jetzt schauen Sie gefälligst nicht so verdattert, ich kann schließlich nichts für Ihr Leseverhalten.)

Mitten in die Ratlosigkeit platzt die Erklärung: Beatrix von Storch hat den Artikel via Twitter geteilt. Frohgemut zwitschert die AFD-Bundesvize in die Welt: "Flüchtlingsfamilie. Eigenes Haus. Alle fünf Kinder eigenes Zimmer. In meinem Freundeskreis träumen da auch einige von." Er scheint groß zu sein, der Freundeskreis der Beatrix Amelie Ehrengard Eilika von Storch. Denn ab dem Moment, in dem die gebürtige Herzogin von Oldenburg den Artikel durch Teilen geadelt hat, verbreitet er sich viral. Der Anfang eines Shitstorms, der sich gewaschen hat.

Der Homo wütbürgeriens: Ein Verhaltensforscher klärt auf

Volkes Zorn bricht sich Bahn. Und die glücklich in die Kamera lächelnde Familie wird zur Zielsscheibe des gemeinen Homo wutbürgeriens, einer noch jungen Unterart des modernen Menschen. Laut Wissenschaftlern zeichnet sich diese Subspezies durch eine stark ausgeprägte sogenannte Grundwut aus. Diese könne sich zwar gegen jeden richten, erklärt Hajo Hassmich von der Universität Kleinkleckersdorf. In der Praxis will der (nicht rennomierte, da frei erfundene) Verhaltensforscher aber eine präferierte Zielgruppe ausgemacht haben: Flüchtlinge. Ausschlaggebend sei die Vermutung, dass diese die eigenen Lebensgrundlagen dezimieren würden. Dabei reiche dem Homo wutbürgeriens schon der bloße Verdacht. Denn gegen Fakten, hat Hassmich beobachtet, hege die Subspezies ein tiefes Misstrauen. "Denen nähert sie sich nur mit äußerster Vorsicht - wenn überhaupt."

So erklärt sich Hassmich auch die vielleicht widersprüchlichste Eigenschaft des Homo wutbürgeriens. Nachweisliche Sozialschmarotzer - auch Steuerflüchtlinge genannt - betrachte dieser gerne als Vorbild. Hassmich nennt Beispiele. Da wäre etwa ein prominenter Würstchenfabrikant, im Nebenjob Präsident eines drittklassigen Dorfkickvereins. Als dieser wegen Steuerhinterziehung kurzzeitig ins Kittchen kam, löste dies laut Hassmich vor allem eine Reaktion aus: Mitleid. Argumentiert werde in solchen Fällen gerne mit Thesen wie: "Der arme Mann wollte doch nur sein Vermögen vor dem Staat schützen." Völlig fehl am Platz, findet der Verhaltensforscher. "Stellen Sie sich vor, wir alle würden plötzliche keine Steuern mehr bezahlen. Von was soll der Staat dann Straßen bauen, Schulen unterhalten oder meinen fiktiven Lehrstuhl finanzieren?" (Hassmich redet sich in Rage.)

User wissen: Vor dem Sex erst das Gehirn einschalten

Hat er einen guten Rat für die ungewollt ins Visier der Wutbürger geratene Familie? Der Verhaltensforscher schüttelt bedauernd den Kopf. "Sehen Sie, egal was diese bedauernswerten Menschen auch tun - die neue Subspezies wird es negativ auslegen." Der Blick in die Kommentarspalte gibt Hassmich recht. Da gibt es die, die sich an den Kopftüchern von Mutter und Tochter stören. Integrationsverweigerer, wettern sie. Für wieder andere legt die Familie dagegen einen geradezu bösartigen Einbürgerungswillen an den Tag. Da wollen die Kinder doch tatsächlich die Schule besuchen, der Vater sich Arbeit (!) suchen. Eine besonders perfide Strategie, um die bewährte "Die-liegen-doch-alle-uns-Steuerzahlern-auf-der-Tasche"-Leier zu entkräften. Ein gewiefter Kommentator erkennt das sofort und geifert: "Eine Integration in unser Land ist nach Asylgesetz überhaupt nicht vorgesehen."

Doch ob integriert oder nicht, ein Haus mit acht Zimmern ist zu viel des Guten. Nicht nur für Beatrix von Storch. Von solch einem Luxus könne manch deutsche Familie nur träumen, lautet der einhellige Tenor. Eine Alleinerziehende mit drei Kindern bekomme vom Amt gerade Mal eine zwei-Zimmer-Sozialwohnung zugewiesen, empört sich das Netz. Und bei Flüchtlingen hat jedes der fünf Kinder ein eigenes Zimmer!? "Die Forderungen und Unverschämtheiten von illegalen Einwanderern werden immer wahnsinniger", tobt ein User. Recht so. Sich erst ohne Verstand vermehren, und dann für jeden Sprößling ein eigenes Zimmer haben wollen. "Wir schulden diesen Menschen gar nichts, so einfach ist das. Vor dem SEX ist es immer ratsam, das Gehirn einzuschalten!", wettert der Mann.

Wer sich nicht fortpflanzt, hat auch keine Platznot. Exzellenter Lösungsansatz! Den möchte man auch dem Homo wutbürgeriens wärmstens ans Herz legen.

Faktencheck: Wer bekommt wieviel?

Und jetzt man ganz im Ernst. Was ist dran, an den Vorurteilen? Bekommt ein Flüchtling tatsächlich mehr vom Staat als ein Sozialhilfeempfänger? Wir haben beim Kreissozialamt in Rottweil nachgefragt.