Der Union Jack hinter der Flagge der EU in London Foto: dpa

Am 29. März 2019 ist Schluss. An diesem Tag wird Großbritannien die Europäische Union verlassen – so hat es Premierministerin Theresa May vor über einem halben Jahr angekündigt. Doch was kommt danach, wollen Landtagsabgeordnete wissen.

London/Edinburgh - Die Antwort ist immer diesselbe. „Was nach dem Brexit passiert, ist absolut unklar“, sagen die Gesprächspartner in London und Edinburgh den Landtagsabgeordneten aus Baden-Württemberg. Gespannt bis fassungslos verfolgen Banker und Unternehmer in Großbritannien den Machtkampf in der konservativen Regierung. Die Überlegungen von Premierministerin Theresa May, die Übergangsfrist zu verlängern, schüren ebenso Unsicherheit wie die Forderung von Außenminister Boris Johnson, die EU lieber ohne, als mit schlechtem Vertrag zu verlassen.

Der Brexit betrifft auch Baden-Württemberg, denn das Land ist mit Großbritannien wirtschaftlich eng verbunden. Deshalb lag es für den Finanzausschuss des Landtags nahe, mit Vertretern deutscher Unternehmen in England und Schottland über mögliche Auswirkungen für den Südwesten zu sprechen, sagt dessen Vorsitzender Rainer Stickelberger (SPD). Laut IHK Region Stuttgart haben über 2000 Unternehmen Geschäftskontakte auf die Insel, 50 haben dort eigene Produktionsstätten, rund 200 eine Niederlassung. An 415 Firmen im Vereinigten Königreich sind Firmen aus dem Südwesten beteiligt. Für Baden-Württemberg ist Großbritannien der sechstgrößte Exportpartner, bei den Importen steht die Insel auf Platz zwölf. 2016 wurden nach Angaben des Wirtschaftsministeriums in Stuttgart Waren im Wert von 12,2 Milliarden Euro nach Großbritannien exportiert, vor allem Autos, Autoteile und Maschinen. Von dort kamen Waren im Wert von 4,6 Milliarden Euro, darunter chemische Erzeugnisse, Maschinen sowie Datenverarbeitungsgeräte, elektronische und optische Erzeugnisse.

Jedes siebte Unternehmen prüft Umzug

Nach Erhebungen der Unternehmensberatung Ernst&Young erwägt jedes siebte internationale Unternehmen in Großbritannien, seinen Standort zu verlegen. Für die Niederlassung der Landesbank Baden-Württemberg in London ist das noch kein Thema. „Wir beobachten genau, wie sich das entwickelt, prüfen die Risiken“, sagt Matthias Heuser, Bereichsleiter International Business. Aber für ihr Kerngeschäft – Firmenkredite, Finanzanlagen und Gewerbeimmobilien – laufe es gut, weil weiter viel Kapital nach London fließe, etwa aus China. „Schwierig werden könnte es aber, wenn die britische Regierung verlangen würde, dass Niederlassungen Vollbanken werden müssten. Dann droht ein enorm hoher Aufwand.“

Andere internationale Unternehmen zögern, ob sie noch investieren sollen. „Würden wieder Zollschranken errichtet, hätte das große Nachteile für viele Firmen“, sagt Johannes Haas, Chef der DZ Bankniederlassung in London. Nicht nur, weil sich die Waren dann verteuern könnten. „Auch die Lieferzeiten würden möglicherweise durch die Abwicklung an den Grenzen verlängert. Dies wiederum gefährdet die Just-in-time-Lieferungen für die ausgeklügelten Produktionsprozesse, die vielen Betrieben teure Lagerhaltung ersparen.“

Hoffnung auf „pragmatische Lösungen“

Ausländische Mitarbeiter ließen sich nicht ohne Weiteres durch britische Arbeitskräfte ersetzen, warnt Ulrich Hoppe, Generaldirektor der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer. „Für global agierende Firmen ist die Personenfreizügigkeit unverzichtbar.“ Dennoch ist er „verhalten optimistisch“, dass sich die Briten mit der EU auf eine „pragmatische Lösung“ einigen. Sie verstünden sich zuerst als Handels- und Finanznation und seien 1973 den damaligen Europäischen Gemeinschaften vor allem aus wirtschaftlichen Gründen beigetreten, nicht um den Frieden zu sichern. „Auch wenn es derzeit noch nicht so aussieht, könnten sie am Ende auch den Ausstieg pragmatisch organisieren“, hofft Hoppe.

Dass diejenigen, die für den Brexit gestimmt haben, weil sie sich von Europa abgehängt fühlen, vom Ausstieg profitieren werden, glaubt kaum einer. Die Löhne stagnieren, während die Inflation bei drei Prozent liegt. Mit der Abwanderung von Banken gingen auch Arbeitsplätze in anderen Bereichen verloren, von der Kinderbetreuung über Restaurants bis zum Reinigungsgewerbe, erwartet Haas. Viele Gesprächspartner befürchten auch einen Aderlass an Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen in Großbritannien. Entfielen die Forschungsgelder und Stipendienprogramme der EU, träfe das aber auch Wissenschaftler und Studenten in Baden-Württemberg. Für sie sind die britischen Hochschulen mit die wichtigsten Partner. Zwischen Hochschulen in Baden-Württemberg und Hochschulen im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland bestehen laut Wissenschaftsministerium derzeit insgesamt 393 Hochschulkooperationen

In Schottland will die Mehrheit in der EU bleiben

„Großbritannien ist nicht trotz, sondern wegen der EU die fünftstärkste Wirtschaft der Welt“, erklärt Francis Grove-White, Vizechef von Open Britain. Die Nichtregierungsorganisation, die Zuspruch aus allen Parteien erhält, sammelt Unterschriften für den Verbleib im europäischen Binnenmarkt und der Zollunion. Grove-White vermutet, dass die Regierung bei den anstehenden Gesetzesänderungen auch ihre Macht ausbauen und Arbeitnehmerrechte und Umweltschutz einschränken könnte.

In Schottland regt sich ebenfalls Widerstand gegen den Brexit. 62 Prozent wollen in der EU bleiben – auch deshalb stimmte beim Unabhängigkeitsreferendum 2014 die Mehrheit für den Verbleib bei Großbritannien. Nach dem Brexit-Votum 2016 kündigte Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon ein zweites Referendum an. Das liegt auf Eis. Derzeit fände sich keine Mehrheit dafür, meinen viele. Denn trotz allem: England, Wales und Irland sind für die Schotten die wichtigsten Wirtschaftspartner.

Relative Gelassenheit überrascht Abgeordnete

Die relative Gelassenheit vieler Gesprächspartner überrascht die Abgeordneten aus dem Südwesten. Sie hoffe auf ein Ergebnis, mit dem alle leben können, sagt Thekla Walker, finanzpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion. „Wir sind ja nicht nur Handelspartner. Es wäre bedauerlich, wenn es den hervorragenden Austausch mit den Unis in England und Schottland nicht mehr gäbe.“ Er kehre etwas beruhigter zurück, sagt der CDU-Finanzexperte Tobias Wald. Die Herausforderungen für die baden-württembergische Wirtschaft seien geringer als befürchtet. Nötig ist auss seiner Sicht aber ein harter Brexit. „Rosinenpicken darf es in der EU nicht geben.“

Peter Hofelich (SPD) plädiert ebenfalls für eine klare Linie gegenüber der britischen Regierung, „auch um die um den proeuropäischen Kräften Verhaltenssicherheit“ zu geben. „Zugleich sollten wir die Türen aber offen halten für möglichst viele gute Beziehungen mit Großbritannien.“ Gerhard Aden (FDP) hätte gern auch einem Brexit-Befürworter auf den Zahn gefühlt. Nicht dabei war die AfD, die den Brexit begrüßt. Ihr Fraktionschef Jörg Meuthen hatte kurzfristig abgesagt.