Tübingens OB Boris Palmer wird die Verbreitung von Falschnachrichten vorgeworfen. Foto: dpa/Bernd Weißbrod

Medien unterstellen dem Tübinger Oberbürgermeister die Verbreitung von „Fake News“. Was ist dran an einer Messer-Attacke beim Lustnauer Tor, und warum wird die Polizei jetzt per Facebook angegriffen?

Gab es am Lustnauer Tor in Tübingen einen dramatischen Zwischenfall oder nicht? Darüber herrscht in der Universitätsstadt Unklarheit, das Thema ist schon seit Wochen in aller Munde. Ein Angriff im Bus und die anschließende Auseinandersetzung auf der Mühlstraße sind wohl Fakt. Ob ein Messer im Spiel war, oder nicht – darüber gehen die Ansichten auseinander.

 

Anders als das Polizeipräsidium Reutlingen, dem zunächst nichts von einem Messer bekannt war, bleibt OB Boris Palmer bei seiner Darstellung, dass am Tatort ein Messer gesehen wurde. „Es gibt dafür Zeugen, die sich bei mir gemeldet haben“, so der Oberbürgermeister auf Anfrage.

Palmer benennt Zeugen für Messer-Vorfall

Insgesamt vier mögliche Zeugen sind Palmer bekannt. Einer davon ist der Busfahrer, dessen schriftlichen Bericht der OB gelesen hat. Auch darin sei eindeutig von einem Messer die Rede. Offenbar hat der Mann bei der Polizei aber inzwischen genau das Gegenteil ausgesagt. Das Präsidium habe dem OB – gleichzeitig auch Chef der Ortspolizeibehörde – dennoch zugesichert, dass zu dem Vorfall weiter ermittelt werde

„Zeugen können sich täuschen oder falsche Wahrnehmungen machen“, räumt Palmer ein. Ein junger Mann, der bei dem Vorfall offenbar tatkräftig dazwischen gegangen war, habe im Übrigen schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht und wolle daher nicht so gerne aussagen. „Dazu zwingen kann ich ihn natürlich nicht“, so das parteilose Stadtoberhaupt (ehemals Grüne, inzwischen für die Freien Wähler im Kreistag).

Facebook-Profil von Boris Palmer mit Foto vom Vorfall am Lustnauer Tor. Das direkte Einbetten des Frames wurde von Facebook gesperrt. Foto: Screenshot/mic

Tübinger Vorfall im November oder Oktober?

Verwirrung hatte es zunächst darum gegeben, dass Boris Palmer wiederholt von einem Vorfall im November oder „Anfang November“ geschrieben hatte, auch auf seinem Facebook-Profil. So stand es dort am Mittwochmittag immer noch nachzulesen, obwohl laut Palmer inzwischen klar sei, dass sich die Geschehnisse am Lustnauer Tor bereits am 17. Oktober ereignet hätten.

Schon vor einigen Wochen hatte Palmer auch im Beisein des Tübinger Polizeichefs unwidersprochen dem Gemeinderat darüber berichtet. Einigermaßen verwundert zeigt sich der OB nun darüber, dass die bei der Sitzung anwesende Lokalpresse das Thema damals nicht sofort aufgegriffen habe.

Version mit und ohne Messer

In seinem ersten Post auf Facebook berichtete Palmer, ein Fahrgast in einem Bus solle auf einen anderen Mann eingeschlagen haben. Als der Busfahrer dann die Türen öffnete, damit das Opfer fliehen konnte, sei der Angreifer hinterher gerannt und habe ein Messer gezückt, so die Darstellung. Passanten hätten den Angreifer jedoch in der Mühlstraße zu Boden gebracht. Als die Polizei eintraf, sei der Mann auf die Beamten ebenfalls mit dem Messer losgegangen – jedoch erfolglos. „Ich bin sehr froh, dass niemand verletzt wurde und bedanke mich herzlich bei den jungen Männern, die mit großer Wahrscheinlichkeit Schlimmeres verhindert haben“, schrieb Palmer.

Deutlich anders schildert das Polizeipräsidium Reutlingen die Situation: Ein 25-jähriger Afghane habe im Bus versucht, eine Frau zu schlagen. Passanten überwältigten den Mann und hielten ihn bis zum Eintreffen der Polizei fest. Ein Messer sei weder bei dem Angreifer noch in der Umgebung gefunden worden, und kein Beteiligter habe sich an ein Messer erinnern können. Auch habe es keinen bewaffneten Angriff auf Polizisten gegeben. Der 25-Jährige wurde daher „nur“ in Handschellen abgeführt und wegen versuchter Körperverletzung angezeigt.

Die widersprüchlichen Darstellungen führten dazu, dass manche Medien dem Tübinger OB die Verbreitung von Falschnachrichten unterstellen. So erklärte ihn die linke Tageszeitung „Junge Welt“ etwa zum „Alternativen Faktenfinder“ des Tages. „Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer sorgt auf Facebook für Verwirrung und hitzige Diskussionen“, schreibt der SWR.

Kein Polizeibericht zu Gewalttat

Facebook-Kommentatoren bemängeln ihrerseits, dass sie sich nicht ausreichend informiert fühlten, und der Fall zunächst auch gar keine Erwähnung im Polizeibericht gefunden habe. „Da außer dem Täter niemand verletzt wurde und kein Messer gefunden wurde, hatte die Polizei nicht darüber berichtet“, so die Erklärung der Schwäbischen Zeitung dafür.

In der Tat ist es unter Reportern kein Geheimnis, dass die Polizei in Baden-Württemberg ihre Pressemitteilungen nicht immer nach Skandalträchtigkeit priorisiert, sondern dabei auch ein sogenannter „Präventionsplan“ mit monatlichen Schwerpunkten wie „Cannabis“ oder „Einbruch“ eine Rolle spielt. „Jeden Tag passiert so viel. Da können wir sowieso immer nur einen Bruchteil der Realität abbilden“, so einmal ein Polizeisprecher aus einem anderen Präsidium hinter vorgehaltener Hand im Hintergrundgespräch.

Facebook-Kritik gegen die Polizei

Bei Facebook richtet sich der Ton unter dem Posting von Boris Palmer nun jedenfalls scharf gegen die Polizei, der vorgeworfen wird, womöglich etwas unter den Tisch kehren zu wollen. Die Beamten an den Pranger zu stellen, sei aber überhaupt nicht die Absicht des Oberbürgermeisters, der nach eigenen Worten schon versucht hat, die Beiträge einigermaßen „auszumisten“.

„Ich finde den Vorfall einfach sehr beunruhigend und wollte ihn deshalb selbst zum Thema machen. Dafür nutze ich auch die große Reichweite, die ich als Politiker über soziale Medien habe. Die Sache muss aufgeklärt werden, zumal man ja weiß, dass es in solchen Fällen oft nicht bei einer Einzeltat bleibt“, meint Palmer.

Palmer verweist auf „messerinzidenz.de“

Nur mit offener Kommunikation könne man einer Gerüchteküche entgegen treten, ist der OB überzeugt. Oder heizt er Gerüchte per Facebook vielleicht sogar ungewollt an? Jedenfalls verweist Boris Palmer in diesem Zusammenhang auf das „Daten-Aktivismus-Projekt“ messerinzidenz.de, das auch bei den Menschen im Raum Tübingen im Gespräch sei. Polizeimeldungen aus ganz Deutschland mit dem Triggerwort „Messer“ werden dort automatisiert eingespielt.


Polizei Tübingen befragt Zeugen

„Im Zuge der Ermittlungen hatte die Polizei am Abend des 17. Oktober die Personalien von anwesenden Zeugen erhoben und steht bezüglich möglicher weiterer Zeugen des Vorfalls in Kontakt mit der Stadt Tübingen“, teilt Pressesprecher Martin Raff vom Polizeipräsidium Reutlingen auf Anfrage mit. „Die der Polizei bekannt gewordenen und vernommenen Zeugen haben übereinstimmend angegeben, kein Messer gesehen zu haben", betonte Raff am Donnerstag nochmals ausdrücklich.

Zeugen, die der Polizei bislang noch nicht bekannt sind, werden unabhängig davon gebeten, sich jederzeit mit dem Polizeirevier Tübingen in Verbindung zu setzen (Telefon: 07071/9728660).