Training bei den Blindenfußballern vom MTV Foto: Peter Petsch

Es ist unglaublich. Diese Fußballer sind blind. Doch sie dribbeln, passen und schießen, als könnten sie sehen. Wir waren vor dem Bundesligafinale zu Besuch bei den Blindenfußballern des MTV Stuttgart und wagten einen Selbstversuch.

Stuttgart - So ist das also gemeint mit der Tiefe des Raumes. Dauernd reden Fußballreporter davon, nun weiß ich, wie sich das anfühlt, wie tief so ein Raum sein kann. Und wie endlos. Ich stehe auf einem Kunstrasenplatz des MTV Stuttgart, irgendwo müssen noch andere Kicker sein und ein Fußball, aber ich weiß nicht, wo. Ich bin blind. Die Augenbinde schluckt alles Licht, es ist pechschwarz. Woher um Himmels willen wissen die anderen, wo sie sind und wohin sie laufen müssen, ohne gegen die Bande zu knallen? Und wo bitte ist der Ball? Er hat mich bei unserem Blind Date versetzt. Ein Glöckchen ist in dem Ball, doch ich höre kein Kling, Glöckchen, klingelingeling, so sehr ich auch lausche. Wie hatte Trainer Ulrich Pfisterer noch gesagt? Weite Schritte machen. Quasi nach dem Ball angeln. Meine Güte, muss das dämlich aussehen, wie ein Storch im Salat stakse ich umher, aber da spüre ich was: Da ist der Ball!

Wenn ich vorher noch den Ausgang finde, gehe ich auch am Samstag auf den Schlossplatz: Da spielen die Blindenfußballer des MTV Stuttgart den letzten Spieltag in ihrer Bundesliga. Um 9 Uhr kicken die Lokalmatadoren gegen den VfB Gelsenkirchen, um 16 Uhr spielen sie gegen SF Blau-Gelb Blista Marburg. Einen Sieg brauchen sie noch, dann sind sie deutscher Meister. Wie schon 2009, 2010, 2011. Da könnten sich die sehende Konkurrenz vom VfB Stuttgart mal eine Scheibe abschneiden. Doch die kickten zuletzt ja nicht selten wie Blinde.

Bitte, ich darf das sagen, ich weiß jetzt, wie sich das anfühlt, kicken wie ein Blinder. „Du Blinder!“ Wer hat das nicht schon gerufen im Stadion, dabei ist das gar keine Beleidigung. So gut wie die Blinden kickt ein Haufen Sehender nicht. Um das zu zeigen, hat der MTV zum Training geladen. Erst demonstrieren Alexander Fangmann, Mulgetha Rusom, Sven Schulze und Lukas Smirek, dass man nicht alle Sinne beisammenhaben muss, um sich zurechtzufinden. Zunächst trainieren sie unter der Anleitung von Ulrich Pfisterer, anschließend dient die B-Jugend des MTV als Sparringspartner. Mit Binden über den Augen sind die Jungs völlig hilflos und werden vom Platz gefegt.

20 Meter breit und 40 Meter lang ist das Spielfeld, an den Seiten eingehüllt von Banden. Vier Feldspieler hat jede Mannschaft und einen sehenden Torwart. Wer einen Gegenspieler angreift, muss „Voy!“ rufen, das ist spanisch für „Ich komme!“. Damit diese Rufe zu hören sind wie auch die Anweisungen des „Guides“, der hinter dem Tor steht und den Stürmern zubrüllt, wo das Tor steht und wie weit weg es noch ist, müssen die Zuschauer schweigen.

Solche Stille ist ungewohnt. Sich ganz auf seine Ohren zu verlassen fällt schwer. Wäre ich nur eine Fledermaus und hätte Radar. Pfisterer spielt mir den Ball zu. Die Glocke klappert, jetzt die Hacken zusammendrücken, damit der Ball nicht nur durch die Beine rollt, dann einklemmen und kontrollieren. „Jetzt greife ich dich an“, sagt Pfisterer, „Voy“, „Voy“, „Voy“. Arm herausstrecken, Kontakt suchen, den Körper zwischen Ball und Gegner halten und mit langen Schritten rennen. Nun ja, vorerst ist es eher ein Stolpern. „Weite Bewegungen“, empfiehlt Pfisterer, ein bisschen wie beim Eisschnelllauf.

Das ist offenbar die Version für die Anfänger. Die Nationalspieler Fangmann, Rusom und Co. bewegen sich zackig und schnell, ihnen klebt der Ball am Fuß. Sie brauchen auch kaum Worte. Am liebsten hätte Trainer Pfisterer, dass seine Akteure ganz leise zurechtkommen. „Wenn wir rufen, weiß auch der Gegner, was wir tun.“ Automatisch geht das, die beiden Stürmer stehen links und rechts an den Banden, immer an der gleichen Stelle, ziehen von dort in die Mitte, passen oder schießen. Und das erstaunlich exakt. Mit dem Ball, der so klein und schwer ist, dass er einer Kanonenkugel ähnelt.

Genau, da war doch was. Jetzt will ich auch mal aufs Tor schießen. Erst mal ein Strafstoß, aus sechs Metern. Ich halte die Hand auf den Ball, Guide Jule Hallanzy klopft an die Pfosten, „links“, „rechts“, ich hole aus, Schuss, und nun? Da war ein Klatschen zu hören, offenbar hat Torwart Sascha Müller gehalten. Nach etlichen Versuchen trifft der blinde Journalist auch mal ins Tor. Und wird mutiger. Nun mit Anlauf von der Mittellinie, ich taste mich voran, ganz Blindschleiche, Hallanzy ruft „zehn Meter, Mitte“, „acht Meter“, „sechs Meter“, ich hole aus, und ups, wo ist der Ball? Das war ein Luftloch. So eine Blamage, hoffentlich hat’s keiner gesehen. O doch, der Trainer hat zugeschaut. „Enger am Fuß“, ruft er.

Danke für den Tipp, das wusste ich schon, aber wie bewerkstelligen? Jetzt wäre ich für Hühneraugen dankbar. Also auf ein Neues. Und irgendwann landet der Ball tatsächlich im Tor. Besser wird’s nicht mehr, also runter mit der Binde: Gott sei Dank, es wird Licht.