Birgit Keil (rechts) an der Seite von Alicia Amatriain, der ersten Stipendiatin ihrer Tanzstiftung Foto: Stuttgarter Ballett/Roman Novitzky

Lebenslanges Lernen? Birgit Keil weiß, wie das geht. Die Stuttgarter Kammertänzerin war die erste deutsche Ballerina von Weltrang. Was bewegt sie aktuell?

Auch mit 81 Jahren denkt Birgit Keil nicht an Ruhestand. Die Stuttgarter Kammertänzerin, die auf eine ungewöhnlich erfolgreiche Karriere zurückblicken kann, fördert mit ihrer Stiftung seit 30 Jahren den Ballettnachwuchs.

 

Frau Keil, als Sie vor einigen Jahren bei einer Pressekonferenz nach Ihrem Alter gefragt wurden, sagten Sie: Toujours 39 – immer 39. Was antworten Sie heute?

Da habe ich wohl zum Spaß den Spruch zitiert, den mein Mann gern verwendet. Ich nenne immer mein Alter; es ist ja kein Geheimnis, man kann es überall nachlesen. Und ich schäme mich auch nicht dafür, sondern freue mich, dass ich auf diesem letzten Abschnitt so große Erfüllung in meinen Aufgaben finde wie zu meinen aktiven Tänzerzeit. Ich bin ein sehr positiver Mensch und kann dem Alter viel Erfreuliches abgewinnen.

Zum Beispiel?

Für meine Tanzstiftung verfolge ich die Karrieren unserer Schützlinge und bin viel unterwegs, um ihre Vorstellungen zu besuchen. Das ist ein großes Glück für mich.

Ihre Tanzstiftung feiert 30. Geburtstag. Wie viele Tänzerinnen und Tänzer haben Sie bisher gefördert?

Es sind an die 300 Jahresstipendien, die die Stiftung vergeben hat. Auf einer Weltkarte haben wir die Geburts- und Arbeitsorte aller Geförderten versammelt, was aussieht wie der Plan einer großen Fluggesellschaft. Das finde ich schon sehr beeindruckend. Mir war wichtig, mit der Stiftung etwas zurückzugeben und nicht nur Projekte zu realisieren.

Schaffen Sie es, die Karrieren all Ihrer Schützlinge zu verfolgen?

Ich begleite jeden Werdegang mit Interesse und dokumentiere ihn auf der Homepage der Stiftung, selbst wenn die ehemaligen Stipendiaten aufhören zu tanzen. Stolz bin ich auch darauf, dass wir eine wachsende Zahl an Eleven des Stuttgarter Balletts fördern können. 2022 waren es noch zwei, 2026 werden es fünf sein.

Sie sind vor kurzem 81 Jahre alt geworden – wie bleiben Sie so erstaunlich fit?

Ich mache schon etwas für meine Mobilität, Gymnastik zum Beispiel. Und ich bin Vegetarierin. Trennkost ist mein Tipp; ich trenne das, was ich mag, von dem, was ich nicht mag. Aber im Ernst: Es kommt mir nicht in den Sinn, mich zum alten Eisen zu zählen. Mir ist die positive Energie einer Tänzerin geblieben, die ich schon immer hatte. Schon früher haben mein Mann Vladimir Klos und ich auf Tourneen Museen besucht. So interessiert sind wir geblieben – an Kultur, an Menschen und am Stuttgarter Ballett, unserer großen Liebe. Die Idee meiner Tanzstiftung war auf diese Kompanie abgestimmt.

Dann kam es anders…

Ja, und die neue Aufgabe als Leiterin der Akademie des Tanzes hatte mir bestätigt, wie viel eine gute Ausbildung bewegen kann. Nach meiner aktiven Tanzkarriere in Stuttgart war ich selbst plötzlich auf eigene Beine gestellt und musste meine Schwerpunkte setzen. Das war sehr herausfordernd, aber auch sehr intensiv, da ich viel dazulernen durfte. In den 22 Jahren als Pädagogin in Mannheim konnte ich viele internationale Talente so ausbilden, dass ihnen erfolgreiche Karrieren offenstanden.

Birgit Keil und Vladimir Klos 2019 beim Abschied in Karlsruhe Foto: Badische Staatstheater/ Uli Deck

2003 haben Sie zudem das Badische Staatsballett übernommen. Wuchs Ihnen die Arbeit nie über den Kopf?

Als mir der Karlsruher Generalintendant Achim Thorwald die Direktion in Karlsruhe anbot, habe ich geantwortet: Ja, aber nicht ohne die Akademie. Das war für mich die Möglichkeit, um nach meinem Anspruch ausgebildete Tänzer engagieren zu können. Bis 2019 habe ich sieben Tage die Woche gearbeitet. Aber natürlich war das auch nur mit einem guten Team machbar.

Heute stehen Tänzer unter extremem Druck. Zum einen, was technische Anforderungen betrifft, zum anderen durch soziale Medien, die Perfektion multiplizieren. Würden Sie selbst da nochmals Tänzerin werden wollen?

Ich vermute, dass es nach wie vor dabei bleibt: Der Tanz sucht sich die Menschen aus. Und wenn der Tanz einen aussucht, muss man das machen. Sucht er sich einen nicht aus, helfen auch ehrgeizige Mütter und Lehrerinnen nichts. Aber ich weiß nicht, ob ich die Spitzenleistung bringen könnte, die heute gefordert wird.

Sie hatten jung Erfolg. Der Kritiker Clive Barnes, der dem Stuttgarter Ballett Wunderstatus attestierte, schrieb, dass Sie die Ballerina von Weltformat seien, auf die Deutschland so lange gewartet habe. Wie groß war der Druck?

Ich habe viel gearbeitet und es mir nicht leicht gemacht. Aber ich wollte das ja, auf der Bühne sein, und ich liebte es. Lampenfieber fühlte sich für mich an wie das Gefühl vor einer Reise. Clive Barnes war schon früher in Stuttgart gewesen. Schon damals war er, wie er schrieb, überwältigt davon, welche Hingabe ich beim morgendlichen Training zeigte. Diese Liebe zum Tanz ist mir geblieben.

Hannes Kilian hat Sie 1971 vor der Skyline von Manhattan fotografiert. Hatten Sie damals das Gefühl: Jetzt habe ich es geschafft?

Nein, den Eindruck hatte ich nie. Geschafft – was heißt das denn? Nie hatte ich das gedacht. Früher hieß es zum Beispiel: Wenn du in dieser oder jener Fernsehsendung bist, dann bist du ein Star. Nie habe ich so gedacht, ich habe nie etwas ganz geschafft, mein Weg war immer offen und ich habe immer noch etwas lernen können. Deshalb war die Zeit nach meinem Bühnenabschied für mich auch so wichtig.

Birgit Keil als Gräfin Capulet in einer Jubiläumsvorstellung von „Romeo und Julia“ (mit Alicia Amatrian und Marcia Haydée, von links) Foto: Stuttgarter Ballett

Sie gehörten zu den vier Tänzern, denen John Cranko sein Ballett „Initialen“ gewidmet hat. Verstehen Sie sich bis heute?

Natürlich, alle Lebenden sind nach wie vor befreundet. Verständlicherweise wurde Marcia Haydée und mir früher ein Konkurrenzverhältnis nachgesagt. Es war nicht immer leicht, aber wir waren uns gegenseitig Ansporn. Vor allem war Marcia ein großes Vorbild für mich und wir sind sehr dankbar, dass wir uns noch haben. Auch zu Egon Madsen empfinde ich die tiefe Verbundenheit, die Cranko in „Initialen“ gezeigt hat. Richard Cragun war wie ein Bruder für mich. Stundenlang haben wir im Ballettsaal Dinge ausprobiert

Haben Sie noch Albträume aus Tänzerinnentagen?

Ja, die habe ich immer noch. Dann träume ich, dass ich als Katharina in „Der Widerspenstigen Zähmung“ auf die Bühne soll, aber überhaupt nicht fertig bin – die Haare sind nicht geflochten, nicht mal die Bänder an den Spitzenschuhen sind angenäht.

Gibt es etwas in Ihrer Karriere, das Sie verpasst haben?

Ich hätte so gern Klavierspielen gelernt, das war ein großer Traum von mir. Aber meine Eltern hätten das nicht finanzieren können, später fehlte mir die Zeit dazu.

Info

Tänzerin
1944 in Kowarschen (heute Kovárov/Tschechien) geboren, absolvierte Birgit Keil ihre Ausbildung an der Ballettschule der Württembergischen Staatstheater. 1961 kam sie zum Stuttgarter Ballett, 1963 ernannte sie John Cranko zur Solistin, wenig später zur Ersten Ballerina. Gastauftritte an der Seite von Stars wie Rudolf Nureyev machten sie als „die deutsche Ballerina“ bekannt.

Förderin
1995 beendete Birgit Keil ihre Bühnenkarriere und gründete die nach ihr benannte Tanzstiftung gemeinsam mit der 2015 verstorbenen Maddalena Mina di Sospiro. Erste Stipendiatin war Alicia Amatriain. Seither wurden mehr als 300 junge Talente unterstützt. Gefördert wurden seit 2020 auch insgesamt 23 Eleven des Stuttgarter Balletts.

Stiftung
1997 übernahm Birgit Keil die Leitung der Akademie des Tanzes in Mannheim. Mit Beginn der Spielzeit 2003/2004 wurde sie zudem Ballettdirektorin am Badischen Staatsballett in Karlsruhe. Beide Ämter hatte sie bis 2019 inne.