Sie ist Englands bekannteste Psychotherapeutin und sie ist Beststellerautorin: Philippa Perry spricht im Interview darüber, wie wir Konflikte besser lösen können, wie wir den richtigen Partner finden und warum Sex in Langzeitbeziehungen überschätzt wird.
Viele Probleme, die wir mit anderen Menschen haben, rühren daher, dass wir nicht wertschätzend kommunizieren. Doch wenn wir unsere Beziehungen auf ein besseres Fundament stellen, gelingen uns auch viele andere Dinge im Leben besser. Der Meinung ist Philippa Perry (66), Englands Kummerkasten Nummer eins. In „Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Liebsten würden es lesen“ klärt sie die wichtigsten Fragen des Lebens – wie wir die Liebe finden und sie behalten, wie wir Konflikte konstruktiver lösen und wie wir mit Veränderungen und Verlusten im Leben umgehen lernen.
Frau Perry, Sie wünschen sich, dass wir Ihr Buch allen unseren Liebsten zu lesen geben. Warum?
Ich strebe den Weltfrieden an. Bis jetzt war ich dabei nicht sehr erfolgreich. Aber wenn wir alle die Gefühle verstehen könnten, die hinter dem Verhalten anderer Menschen stehen, dem Aufbau von Ressentiments und Verletzungen, dann würden wir diese Menschen nicht als schlechte Menschen abschreiben. Und wenn jeder das Buch gelesen hat, verstehen wir uns alle viel besser. Ich weiß, es ist sehr ehrgeizig von mir, zu wollen, dass alle miteinander auskommen. Ich würde auch gerne zu Präsident Putin sagen: ‚Oh, Sie fühlen sich so klein, wenn Sie andere Länder nicht dazu bringen, zu Ihnen zu gehören.‘
Das ist sicher sehr ambitioniert. Aber wie könnte es im Kleinen funktionieren?
Sehen Sie, in Konflikten dreht es sich oft um Gewinnen und Verlieren. Wir wollen den anderen davon überzeugen, dass wir Recht haben – damit wir gewinnen. Dieser Gedanke treibt uns aber nur weiter auseinander. Und darum geht es doch auch gar nicht. Denn eigentlich wollen wir uns alle einfach gesehen fühlen. Aber wenn wir uns nicht wertgeschätzt fühlen, sondern verletzt, verteidigen wir uns oder gehen zum Angriff über.
Dazu bringen Sie auch ein Beispiel in Ihrem Buch: Ein Mann kritisiert beim Familienessen seine Schwester für einen rassistischen Witz. Danach sprechen sie nicht mehr miteinander.
Es war richtig von dem Mann, das rassistische Verhalten seiner Schwester anzusprechen, das ist unsere gesellschaftliche Aufgabe. Aber das Problem war, dass er direkt zu ihr gesagt hat: „Du bist rassistisch.“ Der Mann ist in die Großstadt gezogen, führt dort ein kosmopolitisches Leben, seine Familie ist auf dem Land zurückgeblieben. Er wollte also seine liberale Gesinnung zeigen, tappte dabei aber in die Falle, in dem er seine Schwester durch die plumpe Linse von rechter und linker Politik gesehen hat. Aber wir sind alle viel komplizierter als das.
Was hätte er besser machen können?
Er hätte versuchen sollen, die Position seiner Schwester zu verstehen. Seine Schwester hat nicht die internationalen Kontakte wie er – und dadurch eine andere Perspektive auf die Welt. Es geht also darum, einen Witz zu kritisieren, aber nicht die Person. Wir alle fühlen uns verletzt, wenn wir mit einem Label versehen werden. Besser wäre also gewesen, der Mann hätte seiner Schwester gesagt, wie er sich durch diesen Witz fühlt.
Wir müssen also alle lernen, die Perspektive des anderen einzunehmen?
Und es geht dabei auch darum, unsere eigenen Gefühle zu erkennen.
Oft reagieren wir in Konflikten aber schnell sehr emotional.
Als junge Frau habe ich einmal meinen Freund mit zum Weihnachtsfest bei meiner Familie mit nach Hause gebracht. Er hatte mir orange Crocs geschenkt. Meine Mutter war schockiert und hat gleich gefragt, wo ich bitte diese Schuhe in London tragen möchte. Und ich habe schon bemerkt, wie der Ärger langsam in mir hochstieg. Aber statt dann auch verärgert zu reagieren, habe ich gesagt: „Mum, als du in London warst, war es 1950, du hast dich schön angezogen, um zu feinen Cocktailparties zu gehen. Kein Wunder, du bist aufgeregt wegen dieser Schuhe.“ Ich habe ihr also Verständnis entgegenbracht für ihre Meinung – und so den Konflikt abgewandt.
Oft sind spontane Reaktionen auf abwertende Kommentare sehr tief in uns drin.
Aber genau diesen Moment, wenn der Ärger in uns aufsteigt, müssen wir unterbrechen. Uns Zeit nehmen, einmal tief durchatmen und uns dann stattdessen fragen, was die Gefühle und Erfahrungen des anderen sind. Mein Tipp ist, statt mit einem „Ja, aber…“ zu antworten, sollten wir mit denselben Worten eine Frage stellen. Also um beim Beispiel mit meiner Mutter zu bleiben: „Denkst du wirklich, ich trage diese orangen Crocs auf einer Dinnerparty in London?“ Wir sollten den anderen nicht verändern wollen. Oft hilft auch ein einfaches: „Danke, dass du mir das gesagt hast, du hast einige wichtige Punkte gesagt – ich denke darüber nach.“ Sie werden einen Feind weniger haben.
Aber das müssen wir ja erst einmal eine Weile üben, um das zu verinnerlichen?
Ja natürlich, je mehr Sie das tun, desto leichter wird es. Ich habe sehr viel Praxis darin, weil ich eine Tochter habe. Und auch bei einem Kind macht es ein Unterschied, ob wir etwas einfach direkt verbieten oder ob wir sagen: Du denkst, du kannst den Nachtbus nehmen? Und ja, ich denke auch, dass du verantwortungsvoll genug bist, um mit dem Bus zu fahren, aber ich bin noch nicht bereit dafür, dass du es alleine tust.“
Oft explodieren wir aber stattdessen.
Das hat oft mit Unsicherheiten zu tun. Unsichere Menschen explodieren oder implodieren – eine andere Option haben sie nicht. Aber eigentlich brauchen sie stattdessen nur sehr viel mehr Liebe. Aber: Wir können innig und eng mit anderen Menschen sein – oder wir können Recht haben.
Sie schreiben, viele machten heutzutage schon beim Kennenlernen vieles falsch, wie zum Beispiel beim Online-Dating, weil sie es wie ein Shopping-Ausflug sehen würden.
Weil es uns so viele Möglichkeiten bietet. Aber wenn wir zu viele Optionen haben, dann haben wir Angst, dass wir uns für die falsche entscheiden. Wenn wir sechs Personen zur Auswahl haben, dann wollen uns vier vielleicht nicht, der fünfte ist hässlich und dann ist nur noch einer übrig. Was machen wir? Wir müssen uns einlassen.
Aber wenn der nicht der Richtige ist?
Wir streben leider oft bei der Partnersuche nach Perfektion. Aber der perfekte Partner existiert nicht. Im besten Fall beeinflussen wir uns gegenseitig, um gut miteinander zurecht zu kommen. Und dann haben Sie ja 30 Jahre Zeit, um den anderen in Form zu bringen.
Oft versuchen wir ja eher, viele Übereinstimmungen mit dem anderen zu finden.
Als ich jung war, war Musik ein großes Thema. Viele haben gedacht, wenn der andere auch Rockmusik hört, dann passt das schon. Aber was sagt das aus? Wir müssen nicht dieselben Hobbys haben, um ein gutes Match zu sein. Mein Mann fährt gerne Mountainbike. Ich mag es ihm, dabei zu zuschauen, seine Begeisterung, seinen Enthusiasmus dafür zu sehen – aber dafür muss ich nicht mit ihm durch den Dreck radeln.
Ich erlebe es oft, dass manche ganze Fragenkataloge stellen. Aber hilft das wirklich?
Ein Date ist doch kein Jobinterview! Es geht doch darum, welche Wirkung wir aufeinander haben. Die Frage sollte auch nie sein: Was fühle ich für jemanden? Sondern: Wie fühle ich mich mit jemandem? Fühle ich mich sicher? Fühle ich mich aufgehoben? Und nicht: Was hat er für ein Auto, was für ein Job, was für ein Haus oder wie viele Kinder.
Ihnen hat für Ihre Ratgeber-Kolumne auch eine Frau geschrieben, die mit ihrem Mann sehr glücklich war, aber weil er aus gesundheitlichen Gründen keinen Sex wollte, hat sie ihn verlassen. Sie sagen, Sex ist gar nicht das Wichtigste in einer Beziehung. Warum?
Das Paar war ja auch schon 70! Wenn Sie jung sind, ist Sex der Grund, warum sie zusammenkommen, aber das ist niemals der Grund, warum sie auf Dauer bleiben. Wir müssen uns mit dem anderen wohlfühlen.
Also hätten Sie ihr geraten, die Beziehung nicht zu beenden?
Genau. Das ist sicher aber auch eine kulturelle Sache. Sex ist nett, aber Berührungen sind das wichtige, die Penetration allein ist es definitiv nicht. Und wenn man jemanden wirklich, wirklich gut kennt, wenn es die Person ist, mit der wir das intimste Verhältnis haben, sie uns wie einen Schatz behandelt – wenn wir so jemanden gefunden haben, dann verlassen wir ihn nicht, bloß weil wir keinen Sex mehr haben. Wer das wegwirft, nur um einen Penis in sich zu haben, macht vermutlich einen großen Fehler.
Aber was können wir stattdessen tun?
Wenn der Sex bei meinen Patienten nicht mehr funktioniert, dann verbiete ich ihnen Sex. In der ersten Woche dürfen sie sich nicht berühren – oft beginnen sie dann wieder zu flirten. In der zweiten Woche dürfen sie sich nur berühren, aber nicht küssen. Dann berühren und küssen, aber keinen Sex haben und so weiter. Wir können die Begierde wieder aufleben lassen. Oft kommen die Paare dann schon nach kurzer Zeit und sagen: „Sorry, wir hatten schon Sex.“
Sie schreiben auch, ein anderer Blick auf den Partner könnte helfen.
Oft sehen wir ihn nur noch in alltäglichen Situationen, deshalb kann es helfen, wenn wir ihn bei der Arbeit sehen. Wenn er vor zehn Menschen eine grandiose Präsentation hält, denken wir eher wieder: „Wow – er ist sexy.“ Ich schaue meinem Mann zum Beispiel immer sehr gerne in seinem Atelier zu. Mein Tipp ist immer: Schau dem anderen bei etwas zu, wo er richtig emotional wird, wo er begeistert ist – und dann kommen wieder viele Gefühle hoch.
Englands Ratgeberin Nummer eins
Leben
Philippa Perry, oder Lady Perry, geboren 1957, ist eine britische Künstlerin, Psychotherapeutin, Journalistin, Radio- und Fernsehmoderatorin. Ihr Buch „Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen: (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)“ wurde 2019 ein Bestseller und in über 40 Sprachen übersetzt. Es folgte 2023 „Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Liebsten würden es lesen (und ein paar andere auch)“.
Ausbildung
Nach ihrem Abschluss in Kunstwissenschaften ließ sie sich zur Psychotherapeutin ausbilden. Sie arbeitete zwanzig Jahre lang als Therapeutin. Im Anschluss arbeitet sie als Ratgeberkolumnistin, für das Fernsehen und als Journalistin im Bereich Psychologie. Seit Juni 2021 ist sie psychologische Ratgeberin für „The Observer“ unter dem Titel „Ask Philippa“. (nay)