Über den Verkaufstisch von Jutta Reinwald werden in diesen Tagen nicht nur Rezepte gereicht: Die Apothekerin sammelt Unterschriften gegen die neue Linienführung der Stadtbahnlinie U 15. Foto: Peter Petsch

Hunderte Unterschriften haben Anwohner am Nordbahnhof gesammelt, um gegen die neue Linienführung der U 15 zu protestieren. Bei den SSB stößt das auf Unverständnis.

Stuttgart - Die Apothekerin Jutta Reinwald steht in weißem Kittel zwischen Apothekerschränken und Medikamenten. Eigentlich kümmert sie sich um Rezepte. Der Zettel aber, der vor ihr auf der Theke liegt, hat nichts mit Medikamenten zu tun. Sondern mit dem Nahverkehr. Mehr als 1600 Unterschriften haben die Anwohner des Nordbahnhofviertels schon gesammelt, um gegen die im September umgestellte Linienführung der Stadtbahn U 15 zu protestieren.

Jutta Reinwald, eine der Initiatorinnen und die Chefin der Apotheke, öffnet auf dem Computer einen Umgebungsplan und zeigt auf die Haltestellen im Umkreis. „Seit nur noch die U 12 hier entlang fährt, haben viele Menschen keine direkte Anbindung nach Bad Cannstatt und nach Zuffenhausen. Das Umsteigen am Nordbahnhof strengt vor allem ältere Menschen sehr an“, sagt die Apotheken-Chefin.

Die Menschen im Viertel treibt bei ihrer Unterschriften-Aktion noch etwas anderes um: der Zugang zum Pragfriedhof. Viele Angehörige, die Gräber besuchen, kamen bisher direkt über den Haupteingang und stiegen an der Haltestelle Pragfriedhof aus.

Jetzt aber erreichen Fahrgäste der Stadtbahn U 15 den drittgrößten Friedhof der Stadt nur noch über die Station Eckhartshaldenweg, kritisiert Reinwald. Denn seit Mitte September fährt die U 15 die neue Route über die Heilbronner Straße zum Pragsattel – und nicht mehr wie seit 2007 über Pragfriedhof und Löwentor. In drei Jahren wollen die SSB die Station Pragfriedhof ganz vom Netz nehmen.

SSB werben für Verständnis

Ein offenes Ohr für die Protestaktion hat Gangolf Stocker, Stadtrat aus der Fraktion SÖS/Die Linke. Bereits im August stellte er im Gemeinderat einen Antrag. Betreff: „SSB-Anbindung Nordbahnhofviertel“. Darin beantragt seine Fraktion, den Aufsichtsrat der SSB dahin zu drängen, „die Linie U 15 - wie bisher - ebenfalls durch das Nordbahnhofviertel“ zu führen, „um dem erhöhten Fahrgastaufkommen und der Verschlechterung der ÖV-Anbindung durch zusätzliches Umsteigen entgegen zu wirken.“

„Das Gebiet am Nordbahnhof wächst und entwickelt sich immer mehr. Da ist es schlecht, nur eine einzige Stadtbahn zu haben“, sagt der SÖS-Politiker. Der S 21-Kritiker beteuert, dass die alte Linienführung sehr wichtig für das Viertel sei. Auch unabhängig vom Bahnhofsbau.

Die SSB widersprechen vehement. Und werben um Verständnis: „Nahverkehr ist immer ein Kompromiss“, sagt Susanne Schupp, Sprecherin der SSB. Die Vorteile müssten die Nachteile überwiegen. „Sehr viele Menschen kommen jetzt schneller mit der U15 nach Zuffenhausen oder Stammheim“, argumentiert Schupp. Der Umweltausschuss habe die Streckenführung intensiv diskutiert, Positionen abgewogen.

Haltestelle Pragsattel deutlich weniger nachgefragt

Die SSB stützen ihre Entscheidungen in der Linienführung auf eine jährliche Erhebung, heißt es dort. „Wir messen an den Knotenpunkt des Verkehrs und bekommen so ein Bild davon, wie sich das Fahrgastaufkommen verändert“, so ein Sprecher. Die Haltestelle Pragsattel sei deutlich weniger nachgefragt. „Die Leute haben die U 15 vor allem genutzt, um von außerhalb in die Innenstadt zu kommen. Das geht nach wie vor.“

Im Zuge der Planungen von Stuttgart 21 habe der Gemeinderat allerdings beschlossen, dass die Stadtbahn in Zukunft durch das Europaviertel führt. Und das bedeutet, dass unter anderem die Haltestelle am Pragfriedhof nicht mehr bedient wird.

Dennoch und vielleicht gerade im Zusammenhang mit S21 hat die Unterschriften-Aktion in den vergangenen Wochen einen enormen Zulauf erhalten. „Leute haben sich bei uns Blankolisten geholt und sind auf die Straße gegangen, um zu sammeln“, sagt die Apothekerin.

Die Unterzeichner der Aktion sind erwartungsgemäß vor allem Anwohner. Wie zum Beispiel Erwin Huber. Der 72-Jährige besucht wöchentlich den Friedhof, pflegt die Gräber seiner Familie und von alten Freunden. „Sehr viele Besucher sind auf die Haltestelle angewiesen“, so der Betroffene. Er erhofft sich, dass die 1600 Unterschriften vielleicht etwas bewegen können.

Von Stammheim schneller im Stadtzentrum

Kritik kommt nicht nur aus dem Bezirk Nord. Auch auf dem Killesberg stören sich einige Bewohner an der geänderten Linienführung. „Dass die Straßenbahn nun nicht mehr alle zehn, sondern nur noch alle 20 Minuten fährt, ist doch auch schlecht für die Geschäfte in der Gegend“, so ein Anwohner.

Der SSB-Sprecher hält dagegen, dass andererseits viele Menschen profitieren. Fahrgäste aus Stammheim kommen zum Beispiel fünf Minuten schneller ins Stadtzentrum. „Wir transportieren am Werktag etwa eine halbe Million Menschen.“ Da könnte nicht der Wunsch jedes einzelnen erfüllt werden.

Die Sonne scheint auf den Pragfriedhof. Gegenüber des Haupteingangs unterhält sich Renate Treulieb, Inhaberin einer Steinmanufaktur, mit einer Kundin. Sie hat ihr Geschäft direkt an der Haltestelle Pragfriedhof. „Alle Gewerbetreibenden in der Umgebung sind natürlich betroffen“, sagt sie. Ihr Geschäft könne unter dem Wegfall der Station leiden. Dennoch zeigt sie sich verwundert über die Vehemenz des Protests. Schließlich habe es schon vor Jahren die Planung gegeben. „Ich glaube, viele haben sich, wie so oft, bei der Planung der Haltestelle einer Illusion hingegeben.“

Jutta Reinwald und die Verfechter der Initiative haben die Unterschriftenliste nun an OB Fritz Kuhn, Ordnungsbürgermeister Martin Schairer und die Fraktionen des Gemeinderats gegeben. Die Grünen haben Verständnis signalisiert, sagt Reinwald.