Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei hatten dutzende gewalttätige Kleingruppen die Stuttgarter Innenstadt verwüstet und mehrere Beamte verletzt. (Archiv) Foto: Simon Adomat/dpa

Polizeidirektor spricht über Ausbildungsmerkmale. Opferrolle wird zur Gefahr. Volle Härte des Gesetzes gefordert.

Stuttgart/Villingen-Schwenningen - Dutzende gewalttätige Kleingruppen ziehen marodierend durch die Stuttgarter Innenstadt, werfen Schaufenster ein, plündern Geschäfte und gehen auf die Polizei los. Mehrere Beamte werden verletzt. Noch in der Chaos-Nacht wird Polizeidirektor Jürgen Renz von einigen jungen Polizisten angerufen. Dabei, erzählt er, hätten die Beamten ihm geschildert, wie sie die Nacht erlebt haben. Von Zuständen wie im Krieg ist die Rede. "Ich wurde durch die Uniform zum Gegenstand", berichtet einer der Polizisten.

Seit Jahren steigen die Angriffe auf Beamte, sagt Renz. Er lehrt an der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen, ist dort Leiter der Fachgruppe Einsatzwissenschaften.

Gewalt wird zur Routine

Das ein Polizist während seines Diensts Gewalt erlebt, gehöre zum Alltag. In der Ausbildung werde schon länger auf diesen Trend reagiert. Eine Folge sei beispielsweise das "situative Handlungstraining", welches laut Renz einen hohen Stellenwert bekomme. Dabei spielen die angehenden Beamten viele Situationen durch und trainierten ein souveränes Auftreten. Gestik, Mimik und Wortwahl seien dabei Thema. "Die Beamten müssen im Einsatz ein sicheres Auftreten vorweisen können. Unsicherheiten dürfen nicht aufkommen", wie der Polizeidirektor erklärt. Auch die Rechtssicherheit des Handelns sei wichtig.

"Stark lernende Organisation“

Um bei der Ausbildung in der Hochschule auf Entwicklungen reagieren zu können, ist Renz ständig im Kontakt mit Beamten. Auch suche er bei verschiedenen Einsätzen immer wieder das Gespräch mit Demonstranten. "Wir sind eine stark lernende Organisation", meint Renz in Bezug auf die Veränderungen bei Ausbildung und Ausstattung der Hochschule. Immer wieder werde evaluiert, ob Strategien und Taktik noch angemessen seien. Auch aus den Vorfällen in Stuttgart werde man Lehren ziehen. "Nach meiner Bewertung wurde in Stuttgart bei den Ausschreitungen vieles durch die eingesetzten Polizeikräfte gut gemacht, trotz allem."

Frust entlädt sich an Polizisten

Einen Grund für das aggressive Verhalten gegenüber der Polizei sieht Renz in einer einfachen Beziehung: Der Polizist agiert als Staatsorgan. Dadurch entlade sich beispielsweise der Frust über die Politik an den Beamten.

Dabei genieße die Polizei grundsätzlich ein hohes Ansehen in der Gesellschaft. Und der Großteil verhalte sich ja auch korrekt. Doch das Gewaltpotential der Gruppe, die sich nicht korrekt verhalte, nehme zu. Meist handle es sich dabei um Menschen, die sich untereinander gegen die Polizei solidarisierten – wie es mutmaßlich auch in Stuttgart der Fall war. "Die Verbindung innerhalb dieser Gruppen ist sehr groß", betont Renz. Dabei gehe es ihnen oft um Ehre und Bruderschaft.

Opferrolle wird zur Gefahr

Gewalt gegen Polizeibeamte gebe es bei verschiedenen Arten von Einsätzen. Nicht nur bei Kontrollen - Ausnahme Fahrzeugkontrollen - sondern auch bei Einsätzen, bei denen im Voraus bereits Spannungen herrschten, wie beispielsweise bei Demos und Fußballspielen.

Bei Kontrollen stelle sich der Kontrollierte oft die Frage "Warum ich?", schildert Renz. Dabei könne es zudem peinlich sein, vor seinen Bekannten kontrolliert zu werden. Bei einigen komme da Aggressivität hoch. Solidarisierten sich andere Mitglieder der Gruppe dann auch noch mit dem Kontrollierten, könne die Lage schnell eskalieren. 

Hinzu komme, dass sich zwischenzeitlich viele im Angesicht der Polizei in eine Art Opferrolle flüchteten. Bei der Suche nach einer Begründung für die Kontrolle falle dann auch oft der Vorwurf des Racial Profiling - also die Anschuldigung, wegen Hautfarbe oder ethnischer Zugehörigkeit kontrolliert zu werden. Dies sei hierzulande aber keineswegs der Fall, betont Renz. Um solchen Vorwürfen entschieden entgegenzutreten, seien klare Worte der Politik wichtig.

Doch was tun gegen die Gewalt?

"Gegen eine kritische Haltung zum Staat kann die Polizei nichts machen", schildert Renz. Um diese gewaltbereiten Gruppen unter Kontrolle zu bekommen, seien alle gefordert: Gesellschaft und Politik. Vor allem aber müsse man konsequent gegen gewaltbereite Gruppen vorgehen. Für die Polizei sei dies jedoch ein Balanceakt - griffen die Beamten hart durch, werde schnell Kritik laut. Was es brauche, sei ein "Schulterschluss mit der Gesellschaft".

Bisher habe man mit Kopfschütteln zu den Ausschreitungen der Gelbwesten nach Frankreich oder zu den schweren Ausschreitungen und Krawallen in die USA geschaut. Jetzt könne man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, es müsse schnell gehandelt und eine Lösung gefunden werden. Diese Lösung müsse dann auch auf ländlichere Gebiete heruntergebrochen werden können, denn "die Sicherheit im öffentlichen Raum hat der Bürger verdient." Dies müsse auch über Stuttgart hinaus gelten.

Volle Härte des Gesetzes

Andreas Heck von der Gewerkschaft der Polizei Baden-Württemberg fordert indes schnellere Verhandlungen bei Gericht und die volle Härte des Gesetzes bei Gewalt gegen Polizisten. Man müsse nichts am Strafmaß selbst verändern - nur dieses eben auch durchsetzen. Er lobt etwa die Staatsanwaltschaft Offenburg für ihr konsequentes Handeln, die damit ein klares Signal setze.

Politische Debatten um Rassismus innerhalb der Polizei hätten das Vertrauen in die Beamten zusätzlich erschüttert, ist sich Heck sicher. Angesprochen auf die vielfach geäußerten Forderungen nach neutralen Stellen meint Heck, diese existierten bereits. In Baden-Württemberg gebe es einen Bürgerbeauftragten.

Polizeigewerkschaft fordert mehr Neueinstellungen

Eine Gefahr durch solche Debatten sei auch die Darstellung der Polizei in den sozialen Medien. Dort würden oft nur die Sequenzen einer Aufnahme gezeigt, die die Polizei in ein schlechtes Licht rückten. Wer diese Aufnahmen hochlade, flüchte gezielt in eine Opferrolle. 

Als Konsequenz aus den Vorfällen in Stuttgart fordert die Gewerkschaft, mehr Neueinstellungen im Polizeidienst. Im Zuge von Pensionierungen würden viele Stellen wegfallen. Dies gelte es zu kompensieren. Die letzte Erhöhung bei den Neueinstellungen sei "nur ein Tropfen auf den heißen Stein" gewesen. "Es gibt noch viele Baustellen", erklärt Heck.