Sozialarbeiter Nils Ullrich Foto: Leif Piechowski

Weibliche Prostitution ist im Stuttgarter Leonhardsviertel gut sichtbar. Männliche Prostitution dagegen war immer schon versteckter. Doch seit Beginn der Stuttgart-21-Bauarbeiten beim Planetarium verlagert sich das Sexgeschäft mit Jungs in die Klett­Passage – ins öffentliche Blickfeld.

Stuttgart - Dario (Name von der Redaktion geändert) hat gerade zehn Euro in ein paar Minuten verdient. Hochgerechnet ist das kein schlechter Stundensatz. Trotzdem ist er unzufrieden. „Er hat mich von 30 auf zehn Euro runtergehandelt“, klagt er. Früher sei das für Oralverkehr undenkbar gewesen. Doch es sind keine guten Zeiten auf dem Schwulenstrich. Und auch nicht für Passanten in der Klett-Passage, die sich dort zunehmend von Strichern belästigt fühlen, aber ihren Unmut nicht öffentlich kundtun wollen. Dorthin, in den Untergrund, ist die Szene abgewandert, seit die Sex-Anbieter ihr Gewerbe infolge der Stuttgart 21-Baustelle nicht mehr in der Anonymität des Schlossgartens beim Planetarium ausüben können.

Wer ein Stricher ist, ist kein Mann. Dass dieses diskriminierende Ressentiment in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet ist, erfahren die 300 bis 500 Stuttgarter Stricher in Stuttgart tagtäglich. Schwul sein – okay. Aber Sex als Mann mit Männern gegen Geld – dafür schämen sich die schwulen und nichtschwulen Männer, die ihre Dienste als Stricher anbieten.

Dario ist einer von ihnen. Er ist heterosexuell. Er erzählt, dass er demnächst ein Mädchen trifft, das er im Internet kennengelernt hat. „Vom Schreiben her könnte es was Ernstes werden“, sagt er. Im Jahr 2009 hat er trotzdem eine Stricherkarriere begonnen, aus Geldnot. Zuvor war Dario im Knast. Warum, dazu will er sich nicht äußern. Er ist Mitte zwanzig, hat ein freundliches, aber schwer einzuschätzendes Gesicht. Er ist ein Heimkind, hat keinen Schulabschluss. Dieses Profil beschreibt den Großteil der Stricher ohne Migrationshintergrund.

Wirtschaftsflüchtlinge aus den Mittelmeeranrainerstaaten

Der andere Teil, geschätzt 70 bis 80 Prozent, sind Wirtschaftsflüchtlinge aus den Mittelmeeranrainerstaaten, nordafrikanischen Krisenländern und Osteuropa, erzählt Nils Ullrich, Sozialarbeiter im Strichermilieu. Ein langjähriger Stricher regt sich über Preisdumping auf: „Seitdem die Rumänen hier sind, verdient man fast gar nichts mehr.“ Sie sind vor allem in der Klett-Passage anzutreffen: „Das sehen wir an den Freiern dort, die uns vom Strich am Planetarium bekannt sind“, sagt Ullrich.

Zur Armut gesellen sich oft Suchtprobleme wie Alkoholismus oder Spiel- und Drogensucht. „Eine Schwierigkeit bei diesen Gruppen ist, dass die Stricher oft aus Ethnien stammen, in denen das Schwulsein verpönt oder gar verboten ist“, sagt Ullrich. Darum kämen Sozialarbeiter nur schwierig mit ihnen über bezahlten Sex zwischen Mann und Mann ins Gespräch.

Nachdem die Bäume des Parkplatzes am Planetarium gefällt worden sind, ist das Gewerbe dort kaum noch im Verborgenen auszuüben. Das vertreibt Stricher und Freier gleichermaßen. Zustimmung in der kleinen Runde, die noch hier auf Sexkontakte aus ist. Zudem seien die meisten Freier, die noch kämen, besoffen. Dario redet von den Morgenstunden an Wochenenden. Kandidaten, die auf der Suche nach Sex für Geld sind und in Schwulenclubs oder Schwulenkneipen „keinen abbekommen haben“, bei denen der Alkohol die Hemmschwelle der Kontaktaufnahme erheblich gesenkt hat.

Einige Stricher versuchen ihr Glück lieber im Internet

Da versuchen einige Stricher ihr Glück lieber im Internet. Wie in der Pornoindustrie gilt auch auf dem Schwulenstrich: Je exotischer, desto besser die Bezahlung. Ein korpulenter, dunkelhäutiger Transvestit, der in Stuttgart Sex anbietet und im Intimbereich noch nicht umoperiert ist, hat sich kürzlich in einem Apartment in Hamburg eingemietet. Und bis zu 500 Euro pro Nacht verdient. „Für die Geschlechtsumwandlung.“ Die meisten Freier wurden übers Internet auf ihn aufmerksam, wo er auf professionell gemachten Bildern in weiblicher Rolle mit Rubensfigur posiert. Andere Stricher versuchen sich auf den großen schwulen Dating-Portalen, die auf Namen wie Gayromeo hören. 1,5 Millionen aktive Nutzer zählt das Netzwerk weltweit, 400 000 allein in Deutschland. Keine kleine Zielgruppe, um mit bezahltem Sex Kasse zu machen.

In der Szene werden die Stricher beneidet, die einen wohlhabenden Stammfreier haben. Francesco (Name von der Redaktion geändert) kommt gerade aus dem Urlaub und ist braun gebrannt. Lässige Sportklamotten, gepflegter Bart, souveräne Art – man könnte ihn für einen Fitnesstrainer halten. Früher hat er auf der Straße wie die anderen angeschafft. Heute hat er nur noch einen Kunden, der ihm auch den Urlaub finanziert. Francesco hat aber auch einen normalen Job. Man kann nicht verleugnen, dass unter den Männern bisweilen Rivalität herrscht. „Verpiss dich, Schwuchtel“, ruft ein Stricher dem anderen mit gewisser Häme nach.

Tagsüber halten sich viele Stricher zu den Sprechzeiten im Café Strich-Punkt in der Jakobsstraße auf. Dort bekommen sie Beratung, Essen und medizinische Versorgung. Träger der Institution sind die Aidshilfe Stuttgart und der Verein zur Förderung von Jugendlichen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten. Vom Café Strich-Punkt aus hat Nils Ullrich die einschlägigen Etablissements im Leonhardsviertel, wo Männer Sex von Männern kaufen, direkt im Blick. „Uns ist wichtig, nah am Geschehen dran zu sein.“

Ullrich beobachtet junge Stricher, die sich von einem älteren Stammfreier aushalten lassen, mit Sorge. Denn oft entstehen geradezu perfide Abhängigkeitsverhältnisse. Ein junger Stricher sucht dringend eine Wohnung? Kein Problem, der Stammfreier besitzt eine. Spurt der Stricher aber nicht mehr, was sexuelle Forderungen angeht, wird er ruck, zuck wieder rausgeworfen. So, sagt Ullrich, stellt es sich auch häufig bei Ausbildungsplätzen dar. Und schon bietet man sich wieder für zehn Euro auf der Straße an. Besonders Stricher mit Migrationshintergrund laufen Gefahr, auf diese Weise ausgebeutet zu werden: Ohne Aufenthaltserlaubnis gestaltet es sich besonders schwierig, Unterkunft und Arbeit außerhalb der einschlägigen Szene zu finden. Ein Teufelskreis.

Auch deshalb werde sich so schnell nichts daran ändern, dass der Schwulenstrich mit einem inflationären Sexangebot an Strichern aus Osteuropa zu den „Discountern im Sexgewerbe“ zähle, wie Ullrich feststellt. In der Klett-Passage ist eine breite Öffentlichkeit jetzt mit den Folgen konfrontiert. Tagtäglich.