Christian Spuck übernimmt bald die Intendanz am Staatsballett Berlin. Und choreografiert dort schon jetzt Verdis „Messa da Requiem“.
Üblich ist es nicht, dass der designierte Chef ein eigenes Stück zeigt, noch bevor seine Intendanz begonnen hat. Dass also Christian Spuck, ab Sommer Leiter des Staatsballett Berlin, jetzt Verdis „Messa da Requiem“ für die Kompanie choreografiert, ist erstens ein Hinweis darauf, dass in der Hauptstadt gerade einiges eher ungewöhnlich läuft, seit 2020 das Leitungsduo Johannes Öhman und Sasha Waltz überraschend hinschmiss.
Andererseits aber auch darauf, dass die Interimsintendantin Christiane Theobald versucht, den Übergang so reibungsfrei wie möglich zu gestalten. Für das Publikum schließlich ist „Messa da Requiem“ vor allem eine willkommene Gelegenheit, zu sehen, wo Spuck in den kommenden Jahren hin möchte.
Spuck gelingt der Spagat
Der 1969 in Marburg geborene Choreograf ist ein Grenzgänger zwischen Tradition und Moderne. Ausgebildet wurde er an der klassisch ausgerichteten Stuttgarter Cranko-Schule, arbeitete dann aber zunächst als Tänzer bei den radikalen Neuerern Jan Lauwers und Anne Teresa de Keersmaeker, ehe er dann 1995 nach Stuttgart zurückgekommen ist. 2012 wurde er Intendant in Zürich, die klassisch arbeitende Kompanie transferierte er behutsam in die Gegenwart – unter anderem mit Stücken wie dem hier 2016 uraufgeführten „Requiem“. Und dieser Spagat zwischen Ballett und freiem Tanz empfiehlt ihn für Berlin.
Fokus auf die Gegenwart
In seiner ersten Berliner Spielzeit wird Spuck einen Fokus auf die Gegenwart legen. Aus dem klassischen Repertoire werden ausschließlich Marcia Haydées „Dornröschen“ und Patrice Barts „Giselle“ wiederaufgenommen, dazu gibt es Uraufführungen von Sharon Eyal, Sol León und Crystal Pite, außerdem kommt eine Arbeit von William Forsythe ins Programm – und Marcos Morau, der schon in Zürich gearbeitet hatte, wird als Artist in Residence eng ans Haus gebunden. Eröffnen wird der Intendant selbst mit „Bovary“. Auf den ersten Blick klingt das weniger nach Ballett der Stuttgarter Schule, mehr nach einem sehr gegenwärtigen Programm.
Klassischer Aufbau
„Requiem“ aber ist ein Hinweis darauf, dass Spucks künstlerisches Konzept raffinierter ist als der konstruierte Widerspruch Gestern– Heute, Ballett–Tanz. Im Grunde ist Verdis Totenmesse tänzerisch klassisch aufgebaut, mit vielen Pas de deux, mit Hebefiguren, kurz sogar mit Spitzentanz, und wie die Tänzer das umsetzen, ist ein Hinweis auf die handwerkliche Qualität des Staatsballetts. Im Zentrum aber stehen abstrakte Massenszenen, und wenn sich Stars wie Polina Semionova oder David Soares für diese aus der Soloposition ins Corps de Ballet einfügen, dann spürt man eine angenehm uneitle Künstlerhaltung. Mit denen lässt sich schon was anfangen.
Auch das Interesse des Choreografen für die Musik, für das zupackend von Nicholas Carter dirigierte Orchester der Deutschen Oper, hilft, dass dieses „Requiem“ das Publikum konsequent überrollt, mit starken Bildern, mit perfektem Tanz, irgendwann vielleicht auch mit dem Selbstbewusstsein eines Choreografen, der schon sehr gut weiß, was er kann. Nichtsdestotrotz könnte der Abend tatsächlich einen Neuanfang für das Staatsballett bedeuten: als Kompanie, die klassisches Ballett als radikal zeitgenössische Kunst interpretiert.