Das Ende: Im Jahr 1949 wurde die Werkanlage der LIAS-Ölforschungsgesellschaft rund um die Schwelhalle in Frommern demontiert. Foto: Stadtarchiv Foto: Schwarzwälder Bote

Heimatgeschichte: Ein Rückblick auf zehn Jahre Arbeitskreis "Wüste" Balingen / Gruppe wächst und hat weitere Pläne

Balingen. Als sich am späten Nachmittag des 9. Dezember 2009 eine Handvoll Geschichtsinteressierter in der "Sonne" zusammensetzte, hätte man ahnen können, dass es um mehr ging, als bloß darum, Gedenktafeln an den baulichen Überresten des Unternehmens "Wüste" in den Balinger Stadtteilen Erzingen, Engstlatt und Frommern anzubringen.

Diesen Wunsch hatte die gebürtige Engstlatterin Ute Jetter bereits im März 2007 an die dortige Ortsverwaltung herangetragen: "In Buchenwald, Dachau und Auschwitz gewesen, bin ich beschämt und traurig, nicht von den Geschehnissen in meinem Heimatdorf zu wissen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es unsere Aufgabe ist, an die Geschichte zu erinnern und über das Geschehene zu informieren", schrieb Jetter an den Ortsvorsteher Hans Bitzer.

Dieser Satz wurde zum Leitbild des Arbeitskreises "Wüste", weil er nach dem großen Stelenprojekt von 2014 zugleich den Ansporn und das Anliegen der Gruppe formuliert.

Unabhängig von Jetters Schreiben erkundigte sich der Kernstädter Martin Sommerer im Januar 2009 bei Oberbürgermeister Helmut Reitemann darüber, ob es in Balingen einen Ort gebe, an dem der Opfer des Zweiten Weltkriegs gedacht werden kann? Nachdem Reitemann den damaligen Stadtarchivar Hans Schimpf-Reinhardt um eine Stellungnahme gebeten hatte, räumte das Rathaus ein, dass "die Stadt Balingen zu wenig auf das Unternehmen ›Wüste‹ hinweist". Der Stadtarchivar erhielt den Auftrag, dies zu ändern.

Eine Projektgruppe formierte sich, wanderte die Stätten und Stellen rund um Balingen ab, derer das Unternehmen "Wüste" habhaft geworden war, entwickelte Ideen über die angedachten Gedenktafeln und verwarf sie wieder. Drei Jahre vergingen, etliche Arbeitstreffen wurden abgehalten, Unmengen an E-Mails verschickt, historische Fakten gesucht, gefunden und ausgewertet, stapelweise Skizzen entworfen, Standorte geprüft und die Finanzierung geplant.

Zwischen Februar und Mai 2012 stellte Schimpf-Reinhardt das Vorhaben, vier Stelenpaare aus Beton in Frommern, Erzingen und Engstlatt zu errichten, im Gemeinderat und in den Ortschaftsräten vor. Die Gremien unterstützten das Projekt.

Bei der Umsetzung der Entwürfe entpuppte sich der Guss der insgesamt acht Stelenteile nicht nur als finanziell aufwändig: Rund 19 000 Euro waren hierfür aufzubringen – mehr als die Hälfte der Gesamtkosten, von denen die Stadt ein Drittel selbst trug. Das Frommerner Stelenpaar stiftete die Heimatkundliche Vereinigung Zollernalb aus Anlass ihres 60-jährigen Bestehens, den Rest steuerten Stiftungen bei.

Auch zeitlich verzögerte sich das Unterfangen: Erst im Sommer 2014 wurde das Stelenpaar in Frommern eingeweiht, 2015 jene in Engstlatt und Erzingen.

Die Projektgruppe von 2009 war zu einem Arbeitskreis herangewachsen, dessen nächstes Ziel darin bestand, sich ein Gesicht zu geben. So ging im Februar 2017 die Homepage des Arbeitskreises "Wüste" Balingen online, ehe im Sommer desselben Jahres die ersten Flyer erschienen. 2018 begannen der personelle Ausbau und die Vernetzung des Arbeitskreises mit anderen Gedenkstätten und mithilfe sozialer Medien. Inzwischen zählt die Gruppe dreizehn Mitglieder, ist auf Facebook vertreten sowie Mitglied im Gedenkstättenverbund Gäu-Neckar-Alb, im Verbund der Gedenkstätten des ehemaligen KZ-Komplexes Natzweiler und in der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen.

Für 2019 wurde erstmals ein Jahresprogramm entworfen, das neben Vorträgen, Veranstaltungen und Führungen vor allem vorsieht, die Balinger Zeitgeschichte ans Licht zu holen und bekannt zu machen. Darum lancierte die Gruppe jüngst das Forschungsprojekt "Zwangsarbeit in Balingen zwischen 1939 und 1945", holt der Arbeitskreis zwischen April und Mai 2020 eine Ausstellung über die Vertreibung der Juden aus Württemberg und Hohenzollern in die Zehntscheuer und wird im November 2020 ein indexierter NS-Propagandafilm vorgeführt, kommentiert und interpretiert.

Fahrradexkursionen und Vorträge ergänzen das Programm, das auf das von Ute Jetter 2007 zum Ausdruck gebrachte Bedürfnis Bezug nimmt, wonach "es unsere Aufgabe ist, an die Geschichte zu erinnern".