Auf der Ebene westlich der Böllatmühle im Kühlen Grund lag bis ins 17. Jahrhundert das Dorf Anhausen. Foto: Schnurr

Das verschwundene Dorf Anhausen nahe Ostdorf im Kühlen Grund wurde vor 750 Jahren erstmals erwähnt.

Balingen-Ostdorf - Dörfer und Städte sind Menschenwerk. Sie kommen und vergehen, wie der Mensch auch, und wenn man angesichts einer aus Naturstein erbauten Behausung oder einer ganzen Siedlung annehmen möchte, sie bestehe bis in alle Ewigkeit, so lehrt uns jede kriegerische Auseinandersetzung, wie vergänglich selbst die stärksten Bauten sind. Auch andere Schicksalsschläge haben schon vor Jahrhunderten Höfe und Dörfer ausgelöscht.

Diese Vorgänge sind mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. "Wüstung" lautet die fachwissenschaftliche Bezeichnung für solche abgegangenen oder ausgegangenen Dörfer. Man weiß beispielsweise nicht viel von dem ehemaligen Ort Ehestetten, wo einst die alte Stadt Ebingen gestanden sein soll. Ähnlich ist es mit dem Walberg zwischen Balingen und Geislingen; nur der Name Schädelhärdtle als einstige Begräbnisstätte erinnert noch an dieses abgegangene Dorf. Oder denken wir an Leutstetten bei Endingen, wo anno dazumal eine blutige Schlacht geschlagen worden sei. Oder an den Ort Auhofen zwischen Zillhausen und Streichen, an den Ort Winzeln zwischen dem Lochenstein und Schafberg.

Die meisten Wüstungen stammen aus der Zeit vor dem Jahr 1500; es gibt auch solche aus späterer Zeit, jedoch nur wenige aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Befassen wir uns für heute einmal mit dem einst von der Bildfläche verschwundenen Dorf Anhausen an der Eyach, weil von ihm noch Beziehungen in die Gegenwart führen. Bei dieser Wüstung ist es auch möglich, Zeit und Grund anzugeben.

Der Weiler Anhausen stand bis ins 17. Jahrhundert hinein rechts der Eyach, unterhalb der heutigen Böllatmühle auf Ostdorfer Markung. Noch heute bezeichnen die Ostdorfer die Straße, die hinunter zur Böllatmühle führt, als Anhauser Weg. Dieser Weg führt am so genannten unteren und oberen Bruderhäusle vorbei; von Gebäuderesten ist allerdings nichts mehr zu sehen. Die Engstlatter andererseits benannten früher das Gewann Afterl auch Anhauser Tal. Der Anhauser Berg ist eine heute noch übliche Bezeichnung für die bewaldete und die freie Anhöhe bei der Böllatmühle.

Der Böllatmüller Wörnle stieß einst beim Bau eines Schweinestalls hinter seiner Scheuer auf menschliche Gebeine. Er stellte fest, dass es sich um einen richtigen Friedhof handeln müsse.

Bei der Beerdigung hatte es wohl sehr geeilt, denn es waren mitunter mehrere Personen in einem Grab beigesetzt, Erwachsene und Kinder lagen unregelmäßig beieinander. Die Leichen waren mit Kalkmilch übergossen. Demnach ist anzunehmen, dass diese Menschen der Pest zum Opfer gefallen sind. Eine unbewusste Beobachtung der Übertragungsweise sprach damals aus dem Glauben, dass die Pest, so schnell sie sonst geht oder reitet, Wasser nicht überschreiten könne. Auch die Anhauser werden geglaubt haben, sie könnten die Pest oder den Schwarzen Tod, wie man diese Seuche auch nennt, am besten dadurch bannen, dass sie ihre daran verstorbenen Mitbürger am anderen Ufer der Eyach beerdigten.

Die Katastrophe hielt bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts an; am Ende dürfte Anhausen nicht mehr viel Überlebende gehabt haben, so dass die wenigen Bewohner den grauenvollen Ort wohl verließen, um sich eine neue Heimat zu suchen. Das dürfte vor etwa 400 Jahren gewesen sein.

Der geheimnisvolle Friedhof von Anhausen beschäftigte in den letzten Jahrzehnten öfter die Gemüter. Beim Eingraben verendeter Pferde stieß man nämlich auf schön gehauene Quadersteine. Auch ein unterirdischer Gang ist ausfindig gemacht worden, der angeblich vom ehemaligen Anhausen bis zur Ostdorfer Kirche als Zufluchtstätte führte.

Eine eigenartige Vorliebe für die auf dem Anhauser Friedhof zutage gebrachten Totenschädel hatte ein früher in der Böllatmühle beschäftigter Fuhrknecht: Er stellte die Schädel der Reihe nach in seiner Schlafkammer auf, musste aber seine makabre Sammelleidenschaft damit büßen, dass die Magd sich weigerte, ihm weiterhin das Bett zu machen, weil sie sich nicht mehr in die Kammer traute.

Einen denkbaren Stoff liefert der Weiler Anhausen für die Sagen: Ein Fräulein von Anhausen, deren Burg über dem Eyachtal stand, hatte die Engstlatter gebeten, sie möchten sie in den Schutz ihrer Gemeinde aufnehmen. Weil Engstlatt diesen Wunsch nicht erfüllte, wandte sich das Burgfräulein mit der gleichen Bitte an Ostdorf. Diese Gemeinde erfüllte das Verlangen der Burgherrin. Zum Dank dafür vermachte sie ihren Besitz an die Gemeinde Ostdorf. Darum reicht heute deren Markung weit in die von Engstlatt hinein. Nach anderer Erzählweise hat das Fräulein nicht um Schutz nachgesucht, sondern um Beerdigung auf dem Engstlatter Friedhof gebeten.

Urkundliches Material über Anhausen ist sehr wenig vorhanden. Erstmals erwähnt ist der Ort im Jahre 1263 (und damit heute vor 750 Jahren) unter der Schreibweise Anhusen. Im Jahr 1291 wurde er vom Grafen Hohenberg an das Kloster Kirchberg bei Haigerloch geschenkt. Im 15. Jahrhundert wird in Anhusen eine Nikolauskapelle genannt.