Im Training mit Hündin Dakota: Martin Szwed zieht einen Autoreifen durch den Schnee. Im Dezember geht der 33-Jährige in die Antarktis. Foto: Heuser

33-jähriger Balinger bereitet sich auf größtes Projekt vor. Nach Tumor-Diagnose eigentlich schon tot.

Balingen - Lähmungserscheinungen, erst im linken, dann im rechten Arm. Motorik und Koordination lassen nach. Auch die Sehstärke nimmt ab. Der Gang zum Arzt ist unausweichlich. Es ist der 16. August 2006, der Tag der niederschmetternden Diagnose. In zwei Wochen wird er 25 Jahre alt. Martin Szwed hat einen Tumor am dritten Halswirbel. Er ist tödlich. Die Ärzte geben ihm zwei Jahre, maximal drei.

Die Überlebenschancen liegen bei zehn Prozent. Das ist keine Option, genausowenig Strahlen- und Chemotherapie. Die Nebenwirkungen sind zu stark. "Da nehme ich lieber die drei Jahre, die mir noch in Aussicht stehen, und beiße dann ins Gras. Aber ich habe die drei Jahre, die ich noch so leben kann, wie ich es will", sagt er sich. Heute, acht Jahre später, ist Martin Szwed 33 Jahre alt. Er lebt in Balingen – besteigt die höchsten Gipfel der Erde und steht kurz vor seinem größten Projekt.

Rückblick: Die Mutter Polin, der Vater Kanadier, verbringt Martin Szwed die ersten zweieinhalb Jahre seines Lebens im niedersächsischen Salzgitter. Dort schuftet der Vater im Bergbau. Dieser stirbt überraschend. Der erste Schicksalsschlag. Nach dem Tod des Ehemanns zieht Szweds Mutter nach Singen an den Hohentwiel. Der Berg wird für den Jugendlichen Martin Szwed eine Art Zuhause. Er besteigt ihn unzählige Male. Der Vater fehlt. Szwed muss früh selbstständig sein. Mit 16 Jahren zieht er von zu Hause aus. Sein Hobby Eishockey beschert ihm im Alter von 18 Jahren einen unterschriftsreifen Dreijahresvertrag beim damaligen DEL-Club Berlin Capitals. Doch eine solide Ausbildung geht vor. Abitur und Studienbeginn in Konstanz folgen. Physik soll es sein. Dann kommt diese Diagnose.

Nach dem ersten Schock gilt es, das weitere Leben auszurichten, die verbleibende Zeit zu nutzen. "Es gab zwei Optionen: Verzweifeln oder weiterleben. Ich hätte mich auch ins Bett legen und sterben können, aber das fand ich nicht so optimal. Deswegen habe ich mich für die andere Option entschieden", sagt Szwed. Doch das hieß, leidensfähig sein zu müssen. Die Schmerzen durch den Tumor waren allgegenwärtig. Ablenkung ist der einzige Ausweg, Sport die Therapie. Bergsteigen wird zum Medikament.

Martin Szweds volle Konzentration gilt dem Klettern. Das Diplom in Physik läuft nebenher, das Training wird ausgeweitet. Das Hobby Kletterschule zieht er jetzt professionell auf, heute gehört er zum Team des Kletterzentrums Berolino in Balingen.

Doch im Jahr 2011, fünf Jahre nach der Diagnose, wird es eng für Martin Szwed. Eine Therapie ist unausweichlich. Heftige Strahlen in Dortmund folgen – ohne Erfolg. 2012 hemmt dann immerhin eine Alternativtherapie das Wachstum des Tumors. Die Kosten von 36 000 Euro sind nur mithilfe von Freunden und Verwandten finanzierbar. Die Krankenkasse beteiligt sich nicht. Die verschärfte Situation zwingt Szwed zum offenen Umgang mit seiner Krankheit. Bis 2011 – fünf Jahre lang – weiß nicht einmal seine Mutter von dem Tumor. Neben seinem Arzt ist nur ein Mensch eingeweiht: Freundin Anna.

Die Einschränkungen bei Kraft und Motorik sind mittlerweile gravierend. Klettern wird immer schwieriger. Der Fokus verlagert sich auf das Bergsteigen. "Auch wenn es mir generell schlechter geht, fühle ich mich in den Bergen immer besser. Je höher du bist, desto unkomfortabler wird es, desto weniger Sauerstoff hast du. Das lenkt ab", sagt der 33-Jährige. Nach allen 27 Gipfeln über 4000 Metern in den Schweizer Alpen muss ein neues Ziel her: Die "Seven Summits", die sieben höchsten Gipfel der jeweiligen Kontinente.

1324 Kilometer durch das Eis – dabei will er Rekorde knacken

Um den Anforderungen gerecht zu werden, beginnt der Extremsportler ein knallhartes Training: Täglich stehen 20 Kilometer Joggen auf dem Programm. Dreimal die Woche gibt es Steigerungen auf bis zu 50 Kilometer. Hinzu kommen 20-Kilometer-Märsche, bei denen Szwed einen 70 Kilogramm schweren Traktorreifen hinter sich herzieht – den hat er, zur Verwunderung einiger Balinger, auch schon durch die hiesige Innenstadt gezogen. Wichtigste Unterstützung ist bei dieser Tortur der sibirische Husky Dakota. Sechs der sieben höchsten Gipfel hat Szwed mittlerweile gemeistert, einzig der Mount Everest steht noch aus. Den hat sich Szwed für 2016 vorgenommen.

Seine bislang letzte Expedition führte ihn nach Alaska. 30 Kilometer, 4000 Höhenmeter, 60 Kilogramm Gepäck: "Am Gipfeltag minus 47 Grad, und all das dafür, dass du exakt zwei Minuten auf dem Gipfel stehst, deine Fotos machst und wieder abhaust. Das ist eigentlich total verrückt."

Wie er zu solch übermenschlichen Leistungen fähig ist, können die Ärzte nicht erklären. Der Arzt, der ihn seit seiner Erkrankung begleitet, hält es laut Szwed für vorstellbar, dass die immensen Endorphin- oder Adrenalinausstöße einen positiven oder eben negativen Einfluss auf den Tumor haben und wachstumshemmend wirken. "Mein Arzt sagt: ›Ich kann es nicht erklären, aber mach’ den Scheiß, den du machst, denn anscheinend funktioniert es‹", sagt Szwed.

In diesem Jahr kommt er in eine deutsch-amerikanische Studie hinein. Von Juni bis August unterzieht er sich zweimal die Woche einer Strahlentherapie in Heidelberg. Ende September folgt eine Eigenimmuntherapie in San Francisco. Und die schlägt an. "Laut den Ärzten sind die Blutwerte okay, und der Tumor wurde unschädlich gemacht. Sie meinen, ich sollte die nächsten fünf bis 15 Jahre Ruhe haben", sagt Szwed.

Stattdessen hat der 33-Jährige nun sein nächstes, sein größtes Projekt im Auge. Am 25. Dezember macht er sich auf, in der Antarktis den Mount Vinston zu besteigen.

Auf den Spuren von Robert Scott und Roald Amundsen will er zudem als erster Deutscher im Alleingang die Antarktis durchqueren. 1324 Kilometer mit einem 116 Kilogramm schweren Schlitten. Ausrüstung, Lebensmittel, Satellitentelefone.

Auf der Reise ist er komplett auf sich allein gestellt, Hündin Dakota kann ihn nicht begleiten. Es würde 17 000 Euro kosten, den Husky in die Antarktis zu fliegen. Die übrigen Kosten belaufen sich ohnehin schon auf 84 000 Euro, die Szwed größtenteils durch Crowdfunding finanziert hat.

45 Tage sind maximal für die Expedition angesetzt, der Weltrekord liegt bei knapp 40 Tagen – Szwed will es in der Hälfte der Zeit schaffen. Und auch ein zweiter Weltrekord soll fallen: 43 Kilometer Strecke an einem Tag sind für die Antarktis momentan Rekord. Szwed hat sich grundsätzlich 65 Kilometer täglich vorgenommen, 100 Kilometer an einem besonderen Tag. Doch eigentlich ist jeder Tag besonders, ein Geschenk.

Martin Szwed ist dankbar für sein Leben, die verbleibende Zeit – sogar für seine Krankheit: "Auch wenn es krass klingt: Der Tumor hat mir mein Leben ermöglicht. Ich hätte sonst sicherlich nicht so gelebt, wie ich es tue. Durch den Tumor habe ich einen anderen Blick auf das Leben bekommen", sagt er und grinst.