Die Teilnehmer der Diskussion. Foto: Thiercy

Emotionaler Appell an Podiumsteilnehmer in Balingen zum Thema "Wertevermittlung".

Balingen - Am Ende des Abends sind Tränen geflossen. Wie nah Peter Seifert das Thema Sicherheit und der Bahnhof geht, zeigte sein emotionales Abschlusswort. Der Übergriff auf eine Jugendliche macht ihn bis heute tief betroffen. Tränen flossen auch bei Schulsozialarbeiterin Carolin Thiele: "Wir jungen Menschen sind doch keine Aliens."

Anderthalb Stunden wurde am Donnerstagabend in der Balinger Stadthalle über Werte diskutiert. Im Fokus junge Leute, die sich anscheinend nicht zu benehmen wissen. Die mit Alkohol und Drogen über die Stränge schlagen. Das wollte die 26-jährige Carolin Thiele nicht auf sich und ihren Altersgenossen sitzen lassen. Sie appelliert an die Gesellschaft: "Bitte helfen sie uns jungen Menschen." Sie selbst habe Zivilcourage gezeigt. "Das war gefährlich, kein Erwachsener hat mir geholfen", sagte sie bei der Podiumsdiskussion. Dann flossen bei der jungen Frau die Tränen. Woran aber liegt es, dass Jugendliche heute scheinbar ziellos sind? Warum fühlen sich die Menschen immer weniger sicher? Diesen Fragen gingen die sechs Herren auf dem Podium auf den Grund. Sachlich durch die Themen geführt von Georg Filser vom SWR. Und eingeleitet von einem Impulsreferat von Adolf Gallwitz.

Gemeinsame Werte nehmen ab

Der Polizeipsychologe attestiert den Bundesbürgern das höchste Angstniveau seit Ende des Krieges. Die gemeinsamen Werte in der Gesellschaft nähmen ab. "Preußische Tugenden sind out", so Gallwitz. Heute gehe es um Selbstverwirklichung, und ja, es sei alles nicht mehr so wie früher: "Viele halten ein Parkverbot für ein versehentlich aufgestelltes Zeichen", gab er ein Beispiel. Und tauchte in die Statistik der Polizei ein.

Mitnichten hätten demnach die Straftaten abgenommen. "2016 gab es sehr viele Straftaten, deswegen sieht 2017 so wenig aus", erklärte er. Und auf die Prozente umgerechnet, sei der Anteil der Verdächtigen Ausländer "übermäßig hoch". Nein, so Gallwitz, das seien längst keine Einzelfälle mehr. "Man muss das objektiv ansprechen und nicht alles über das Zauberwort ›Integration‹ lösen wollen", erklärte Gallwitz und machte dabei die berühmte Raute der Kanzlerin nach.

Michael Schlüssler relativierte dann aber. Der Leiter des Polizeireviers Balingen erkennt durchaus die Unsicherheit der Bevölkerung. Durch objektive Zahlen belegt sei diese im Revierbereich aber nicht. "Schlimme Einzeldelikte vor der eigenen Haustür wühlen auf", so Schlüssler. Allerdings werde auch nicht verheimlicht, dass die Zahlen der straftätig gewordenen Asylbewerber zunehme. "Von den etwa 1600 Delikten, die in Balingen im vergangenen Jahr registriert wurden, haben diese allerdings nur 72 verübt."

Peter Seifert, dessen Leserbrief bundesweit Wellen schlug, erzählte aus seinem Alltag. Der im Winter möblierte Wartesaal habe bereits nach kurzer Zeit wie eine Müllhalde ausgesehen: Chips am Boden, überall leere Becher. Den Jugendlichen sei das gar nicht bewusst gewesen. Angesprochen vom Bahnhofsbesitzer sagten diese: "Dann räumen Sie das doch für mich weg."

Jüngster Vorfall: Ein 15-jähriger, der zwei Mal Hausverbot erhalten hatte, wurde laut Seifert "rotzfrech". Das Ende vom Lied war, dass ein ganzer Mannschaftswagen der Polizei kommen und den jungen Mann bändigen musste.

Anderes Beispiel: wieder ein Jugendlicher, wieder die Polizei. Der junge Mann flüchtet über die Gleise. Wird gestellt. Verhaftet. Zwei Stunden später bitten die Beamten Seifert zur Zeugenaussage. Die Eltern haben die Beamten wegen Freiheitsberaubung angezeigt.

"Auf eine schlechte Tat müssen sofort Konsequenzen folgen", so Gallwitz. Das sieht auch Thomas Jerg so. Der Rektor des Balinger Gymnasiums ist konsequent. Bietet aber immer auch ein Gespräch an. Von Werteverfall will er bei seinen Schülern nicht sprechen: "Sie ›schwimmen‹, haben keine Vorbilder, sind streng auf Leistung getrimmt." Außerdem veränderten die neuen Medien die Wahrnehmung. Selbst längst Erwachsene, so Jerg, starrten permanent aufs Smartphone und bekämen nichts um sich herum mit.

Das bemerkt auch Jochen Brendle vom Balinger Kinder- und Jugendbüro. Er und seine Streetworker gehen auf die Kids zu. Gemeinsam mit der Stadt gibt es durchaus Projekte. Das jüngste ist das "Netzwerk Prävention". Die Polizei fährt bis zu fünf Doppelstreifen mehr pro Woche.

300 Vereine, so Oberbürgermeister Helmut Reitemann, erziehen in Balingen die Kinder quasi mit. Trotzdem gibt es in Balingen anscheinend einen florierenden Handel mit Drogen. Holger Gursury arbeitet seit einem Jahr am Bahnhof: "Ich beobachte täglich, wie da fette Geldbündel den Besitzer wechseln."

Eine Patentlösung gab es nach den anderthalb Stunden nicht. Wohl aber Stichworte, die zu überlegen sind. Zivilcourage, Vorbilder für junge Menschen und die Einsicht, dass früher, als die Podiumsteilnehmer jung waren, auch nicht alles besser, sondern anders war.