Stuttgart/Balingen - Oktober 2011: Die Spezialeinheit GSG 9 rückt in Balingen an. Der Grund: ein russischer Agent, der offenbar im Zollernalbkreis spioniert. Andreas Anschlag, wie er sich nennt, war im Balinger Stadtteil Frommern als Maschinenbauingenieur bei einem Industrietechnikunternehmen beschäftigt. Seine Kollegen fallen nach seiner Verhaftung aus allen Wolken. Die Generalbundesanwaltschaft lässt den für die Arbeit genutzten Computer von Anschlag beschlagnahmen. Angeblich stand dieser damals kurz vor dem Absprung – die Stelle war gekündigt, das Auto verkauft, der Hausstand gepackt.

Oktober 2011: Die Spezialeinheit GSG 9 rückt in Marburg an. Elitepolizisten der Anti-Terror-Einheit stürmen das Haus in Hessen, als Heidrun Anschlag vor dem Kurzwellengerät sitzt. Sie kommuniziert mit dem russischen Nachrichtendienst SWR. Das Agentenpaar, das jahrelang Informationen an seinen Auftraggeber weitergeleitet hat – zuletzt geheime Dokumente über die EU und die NATO – ist aufgeflogen.

Mit seinem Urteil macht das Oberlandesgericht Stuttgart gestern deutlich, dass das kein Kavaliersdelikt ist: sechseinhalb Jahre Haft für ihn, fünfeinhalb Jahre Haft für sie (Az.: 4b – 3 StE 5/12). Eine Besonderheit spricht Sabine Roggenbrod, Vorsitzende Richterin des 4b. Strafsenats gleich zu Beginn ihrer Urteilsbegründung an: »Wir sind zwar überzeugt, dass sie nicht so heißen. Wir bleiben aber bei ihren Aliasnamen Heidrun und Andreas Anschlag.« Das Ehepaar, das vom SWR bis zu seiner Enttarnung unter den Decknamen Pit und Tina geführt wurde, wird wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit verurteilt. Laut Gericht sollen die Anschlags, er im Rang eines Obersten, sie als Oberstleutnant, über die Jahre 690.000 Euro Agentenlohn angespart haben.

Nicht einmal der Anwalt weiß wirklich, wen er vertritt

März 2011

Das Paar, so wird gemutmaßt, hat die Agentenschule des sowjetischen KGB durchlaufen. Von dem berüchtigten Geheimdienst sollen die beiden zu sogenannten Illegalen ausgebildet worden sein. In Russland werden diese Spione respektvoll Wunderkinder genannt. Sie sind Marathonläufer, nicht auf den schnellen, spektakulären Erfolg getrimmt. So erklärt sich die kunstvolle Legendierung, sprich die perfekt gefälschten Biografien.

Erst vom KGB, später von dessen Nachfolger SWR gesteuert und unter Mithilfe des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi) der DDR haben die Anschlags eine Lebenslüge hingelegt, die staunen lässt. 1984 besorgte ein ehemaliger SS-Obersturmführer, der später für die Sowjets arbeitete, Andreas Anschlag in der Gemeinde Wildalpen die österreichische Staatsbürgerschaft. Dafür hatte der Alt-Nazi nachweislich falsche Dokumente vorgelegt. Anschlag sei am 6. Dezember 1959 im argentinischen Valentin Alsina als Sohn österreichischer Auswanderer geboren. Der korrupte Mitarbeiter der Gemeinde Wildalpen bekam umgerechnet 200 Euro zugesteckt. Heidrun Anschlag, angeblich geborene Freud, legte die Geburtsurkunde eines Mädchens vor, das im Alter von zwei Jahren im peruanischen Lima gestorben war.

Ende der 80er-Jahre siedelten die Anschlags mit falschen Namen und falschen Pässen nach Aachen um und begannen ihre Spionagetätigkeit. Von Aachen zogen sie nach Meckenheim, dann nach Landau, ehe sie 2010 im idyllischen Marburg-Michelbach in Hessen Quartier bezogen – als gutbürgerliches, penibel unauffälliges Paar, er Ingenieur, sie Hausfrau, mit inzwischen 19-jähriger, völlig ahnungsloser Tochter. »Wir wissen von den Angeklagten persönlich eigentlich nur, dass er gern angelt und sie gern backt und kocht«, sagt Bundesanwalt Wolfgang Siegmund fast anerkennend.

2008 übernahmen Pit und Tina alias Alexander und Olga alias Andreas und Heidrun Anschlag den vom russischen Auslandsgeheimdienst rekrutierten holländischen Diplomaten Raymond P. als Informationsquelle. Der heute 61-jährige Mitarbeiter des niederländischen Außenministeriums war das perfekte Ziel: hoch verschuldet, spielsüchtig, kranke Ehefrau, Hang zum Luxus. Bei 24 konspirativen Treffen übergab Raymond P. Andreas Anschlag mehrere Hundert Dokumente, gespeichert auf USB-Sticks. Sein Lohn für den Verrat: mehr als 70 000 Euro. Sein Urteil, nachdem P. im März 2012 festgenommen und ihm der Prozess in Den Haag gemacht worden war: zwölf Jahre Gefängnis.

Olga und Alexander verfügten über einen Hochfrequenzsender für Satellitenfunk, versteckt in einer Laptoptasche. »Ein geheimdienstliches Spitzenprodukt allererster Güte«, sagte ein Experte im Prozess vor dem Oberlandesgericht. Damit hielten die Anschlags Kontakt mit Moskau – immer dienstags und donnerstags. Zudem benutzten sie ein Entschlüsselungsprogramm namens Kelchblatt und ein Programm zum Verschlüsseln der Nachrichten mit Namen Parabola. Das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln kann es kaum erwarten, dieses Kommunikationspaket aus der Asservatenkammer des Bundeskriminalamts in die Finger zu bekommen. Auch die CIA und der israelische Mossad sollen Interesse bekundet haben.

Erste Verhandlungen über einen Austausch der Anschlags platzen

Am 18. Oktober 2011 war das gefälschte Leben der Anschlags im »Land des Gegners«, wie Deutschland in einem Funkspruch aus Moskau bezeichnet wurde, vorbei. Die deutschen Behörden hatten einen Tipp aus Österreich bekommen. Zudem war in den USA ein russischer Agentenring mit der inzwischen prominenten Spionin Anna Chapman, auch Agentin 00 Sex genannt, aufgeflogen.

Die diplomatischen Drähte werden wohl bald heiß laufen. Schon kurz nach der Festnahme hatte Russlands Präsident Wladimir Putin einen deutschen Gesandten im Kreml empfangen. Es ging um den Austausch des Anschlags. Die Verhandlungen platzten. Ein neuer Anlauf ist wahrscheinlich. Denn die deutsche Regierung will Tina und Pit gegen den früheren Obersten des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Walerij Michailow, austauschen. Er hatte für die CIA spioniert. Die USA haben diesen Wunsch ans Kanzleramt herangetragen.

Seite 2: Verurteilte, ausländische Spione

In den vergangenen Jahren wurden in der Bundesrepublik mehrfach für ausländische Geheimdienste tätige Spione verurteilt:

Dezember 2012

Wegen Spionage für den militärischen Geheimdienst Syriens wird ein 45 Jahre alter Jurist zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.

Oktober 2011

Wegen Spionage für den chinesischen Geheimdienst bekommt ein 45-jähriger Chinese ein Jahr Haft auf Bewährung.

März 2011

Das Oberlandesgericht München verurteilt einen österreichischen Soldaten wegen Spionage für Russland zu einem Jahr Haft auf Bewährung.

Februar 2011

Ein Libyer wird vom Berliner Kammergericht wegen Spionage zu 14 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

Dezember 2004

Das Oberlandesgericht Koblenz verurteilt eine 43 Jahre alte Übersetzerin wegen versuchten Landesverrats zugunsten Chinas zu einer Bewährung von einem Jahr.

September 2003

Der Spion eines iranischen Geheimdiensts wird vom Berliner Kammergericht zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.