Die mittlerweile in Berlin lebende Kulturwissenschaftlerin Franziska Becker berichtete in Baisingen über ihre Feldforschung. Foto: Straub Foto: Schwarzwälder Bote

Vortrag: Kulturwissenschaftlerin Franziska Becker berichtet von der Nazi-Vergangenheit in Baisingen

Kulturwissenschaftlerin Franziska Becker hat Ende der 80er-Jahre und zu Beginn der 90er-Jahre in ihrer Magisterarbeit über das sogenannte "Judendorf" geforscht. Vor Kurzem stellte die mittlerweile in Berlin lebende Kommunalberaterin ihre Ergebnisse im Rahmen des Jubiläumsprogramms des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft noch einmal vor.

Rottenburg-Baisingen (stb). Gut 50 Interessierte versammelten sich dazu draußen vor der Schlossscheuer in Baisingen.

Die Fakten sind eindeutig, die persönlichen Erinnerungen verschwimmen. An ihre jüdischen Nachbarn und Mitbürger erinnerten sich alte Baisinger oft nur lückenhaft. Vieles wollten sie auch gar nicht so genau wissen. Von den Novemberpogromen 1938 und den Enteigneten profitierten einige.

"Ein Drittel der Baisinger war einmal jüdischen Glaubens", sagte Stephan Neher, Oberbürgermeister der Stadt Rottenburg und Vorsitzender des Fördervereins der Synagoge Baisingen. Sie trugen zum Dorfleben bei. "Wie die Dorfgemeinschaft die Deportation erlebt, mitgelitten und auch mitgetragen hat, ist eine spannende Frage", so Neher. Der langjährige Journalist und Honorarprofessor am Uhland-Institut (Studienschwerpunkt jüdisches Leben und Erinnerungskultur) Hans-Joachim Lang berichtete von Besuchen in Auschwitz und Städten wie Berlin und eben dem Gegenteil: Baisingen. "Das jüdische Leben gehörte auch zum Dorf", sagte Lang.

Becker ging in ihrem Vortrag der Frage auf den Grund, was Menschen vor Ort empfanden, als SA-Männer im November 1938 in den Häusern ihrer jüdischen Nachbarn randalierten und als die letzten Juden 1942 auf Leiterwagen verladen in die Konzentrationslager deportiert wurden. Die von ihr Interviewten erzählten weniger über Tatsachen als vielmehr eine "Ortsgeschichte in Wunschform". In dem Vortrag ging sie den Versionen mündlich erzählter Heimatgeschichte nach und zeigte Techniken des lokalen Erinnerns auf. "Heimatgeschichte bringt uns die große Geschichte näher", sagte Becker. Sie lasse das Kleine schärfer erscheinen und bringe die monströsen Gräueltaten der Nazis mit den kleineren Terrorakten in Verbindung. "Die Spur von Baisingen führt nach Auschwitz", sagte Becker.

Die 1930 etwa 90 im Dorf lebenden Juden pflegten zu den Christen im Dorf nachbarschaftliche Beziehungen und selten Freundschaften. "Ein Abstand hat immer bestanden", sagte Becker. Einige junge Frauen seien bei jüdischen Händlern im Haushalt beschäftigt gewesen. Es gab jüdische Lebensmittel-, Haushaltswaren- und Textilwarenhändler genauso wie eine Metzger, einen Friseur und einen Schreiner. Parolen wie "Kauft nicht beim Juden" seien in Baisingen kaum angekommen, so Becker. Bis zur Reichspogromnacht habe man im Dorf wenig vom Antisemitismus gespürt – nur zum Beispiel die Schreinerei Harburger mit vielen Beamten als Kunden habe bereits ab 1933 deutliche Umsatzrückgänge verzeichnet. Nach dem Novemberpogrom kam hingegen eindeutig die Angst auf, der nachbarschaftliche Kontakt könne für einen selbst gefährlich werden. "Auch in den Archiven finden sich viele Schutzbehauptungen", sagte Becker.

Über den mysteriösen Tod eines jüdischen Mitbürgers nach einem Verhör in Horb zum Beispiel machten sich die Dorfbewohner auffallend wenig Gedanken. Näherer Nachfragen wurden vermieden. Den Schlüssel für die Synagoge, die von SA-Männern zerstört wurde, händigte der Bürgermeister aus. "Die nicht-jüdischen Baisinger haben sich vor allem um ihre eigenen Häuser gesorgt", sagte Becker. Ortskundige zeigten den Fremden die Häuser der wohlhabenden Juden, in denen sie randalierten. Die Feldforschung habe ergeben, dass vor allem die Zerstörung in Erinnerung geblieben sei. "Es ist schad ums Sach", sei ein häufiger Satz gewesen. Diese bäuerliche Haltung sei vor allem geprägt von der alltäglichen Not, wenngleich viele jüdische Nachbarn drei Jahre später auf Leiterwagen aus Baisingen abtransportiert wurden.

"1941 waren die Deportationen für alle sichtbar", sagte Becker. Diese Bilder seien in den Erinnerungen nur schwach ausgeprägt. "Die sind fort gekommen", hieß es oft lapidar. Das sei alles überraschend gewesen und unklar, wohin die Juden gebracht wurden. Der Fuhrmann des Pritschenwagens der Brauerei habe zum Beispiel ein besonders "selektives Gedächtnis" gehabt. "Die christlich-jüdische Gemeinschaft war eine Ohnmacht", sagte Becker. Von den Arisierungen und Enteignungen profitierten viele nicht-jüdische Baisinger, indem sie günstig Gegenstände erwarben. "In der Erinnerung findet sich kaum Schmerz und Trauer", fasste Becker zusammen. Vielmehr bezogen sich viele nicht-jüdische Baisinger auf die Zerstörungen und formten sich Entlastungsgeschichten.

Als Harry Kahn zum Beispiel überraschend zurückkehrte, sagten einige Baisinger, das KZ könne nicht so schlimm gewesen sein. Versteigerungen etwa seien für viele nicht zwielichtig gewesen, da sie vom Finanzamt organisiert wurden. Finanzbeamte repräsentierten schließlich den Staat, also könne es nicht falsch sein. SA-Leute seien dabei nicht offensiv in Erscheinung getreten. Die nicht-jüdischen Baisinger, so Becker, wollten es aber auch nicht so genau wissen. Der Raub und die Verteilung von Eigentum nach der Reichspogromnacht habe zu einer Zustimmung breiter Bevölkerungsteile beigetragen.