Experten haben über Fan-Pfiffe gegen Gündogan, die Kader-Nominierung und andere Themen vor der WM diskutiert. Foto: Thomas Fritsch

Experten sprechen über Fan-Pfiffe gegen Gündogan, die Kader-Nominierung und andere Themen vor der WM.

Baiersbronn - Vor dem Start der Fußball-Weltmeisterschaft, die am Donnerstag in Moskau eröffnet wird, reißen die Diskussionen um die deutschen Nationalspieler Ilkay Gündogan und Mesut Özil nicht ab. Auch beim "Expertengespräch zum 2018 Fifa World Cup Russia" in der Traube im Baiersbronner Teilort Tonbach (Kreis Freudenstadt), zu denen die Hoteliersfamilie Finkbeiner geladen hatte, war es  das Thema Nummer eins.

Die Tonbacher Gespräche sind seit Langem ein Begriff im Nordschwarzwald. Meist standen politische, gesellschaftliche und ökonomische Themen auf dem Programm. Am Sonntag nun folgte das Expertengespräch in Sachen Sport dem Tonbach-Diskurs. Es war vor dem Halbfinale der Europameisterschaft 1996 in England, als der deutsche Nationalstürmer Stefan Kuntz den damaligen Bundestrainer auf den steigenden Druck ansprach. Berti Vogts ließ seinerzeit einen Satz fallen, der sich Kuntz ins Hirn brannte: "Je größer der Druck, desto größer der Pokal", hatte Vogts dem damals 33-Jährigen mit auf den Weg gegeben.

Diskussionen kommen nicht zur Ruhe

Am Sonntag erzählte Kuntz diese Geschichte, weil das Thema, dessen ist er sich bewusst, brandheiß ist – spätestens, seitdem Per Mertesacker vor einigen Wochen offen über die physischen Konsequenzen des psychischen Drucks im Spitzensport gesprochen hat. Folgt man Vogts’ Devise, könnte der Druck auf die Nationalmannschaften gerade jetzt, wenige Tage vor dem Anpfiff des Auftaktspiels der diesjährigen Fußball-Weltmeisterschaft, nicht höher sein.

Inmitten dieser immensen Anspannung hagelte es am Freitagabend in der Leverkusener BayArena beim letzten WM-Test der deutschen Mannschaft Pfiffe – jedes Mal, wenn der deutsche Nationalspieler Ilkay Gündogan am Ball war. Das Gleiche mussten Gündogan und Mesut Özil beim Test gegen Österreich über sich ergehen lassen.

Die Erdogan-Affäre um die beiden England-Legionäre klebt dem DFB-Team an den Hacken, die Diskussionen kommen nicht zur Ruhe. Auch nicht am Sonntagnachmittag im Hotel Traube. Dort besprachen, angeleitet von Moderator Marcel Reif, neben Vogts und Kuntz auch Jürgen Kohler, Weltmeister von 1990, und Thomas Helmer, der mit Kuntz 1996 Europameister wurde, gemeinsam mit "Mister Sportstudio" Dieter Kürten und Reporter Béla Réthy die aktuell heißesten Aktien im deutschen Fußballgeschäft: die Zusammensetzung des WM-Kaders, die Vergabe-Problematik und eben die Sache mit dem unliebsamen Foto.

"Ich kenne Ilkay Gündogan schon lange", sagte Kuntz, der seit 2016 die U21-Nationalmannschaft trainiert, zu dem Dauer-Thema "und das ist keine Stellungnahme des Deutschen Fußball-Bundes, sondern meine eigene Meinung: Die englischen Profis waren in der Türkei, um der Feier einer Stiftung beizuwohnen, die Studenten unterstützt. Sie wussten wohl, dass sie in diesem Zusammenhang auf den Präsidenten Recep Tayyip Erdogan treffen könnten und brachten deshalb ein Gastgeschenk mit." Dass das Foto im Anschluss als Werbung für Erdogan, der sich gerade mitten im Wahlkampf befindet, benutzt wurde, sei nicht abgesprochen gewesen. "Ich habe im letzten Jahr mindestens zehn Fehler gemacht", sagte Kuntz, "man kann nicht mehr machen, als sich zu entschuldigen."

Eine Erklärung sei genug

Genau diese Entschuldigung aber, gab es die? Während sich Gündogan im Trainingslager des DFB wenigstens den Fragen der Journalisten stellte, schweigt Mesut Özil bis heute. "Dass vor allem junge Menschen unter 30 Jahren Fehler machen dürfen, steht außer Frage. Aber auch Gündogan hat sich nicht entschuldigt – er hat sich nur erklärt", sagte Marcel Reif.

Warum dann also für Deutschland spielen, und nicht für die Türkei? "In der U21 hat die Hälfte meiner Spieler einen Migrationshintergrund, damit muss ich mich auseinandersetzen", erklärte Kuntz, "da schlagen zwei Herzen. Für diese Jungs ist es aber eine Ehre, für Deutschland zu spielen, genauso wie es für uns eine Ehre war. Sie sind hier aufgewachsen, haben häufig auch nur die deutsche und keine doppelte Staatsangehörigkeit." Eine Erklärung sei genug, weil Gündogan mit seiner Geste seinen Wurzeln wohl einfach Respekt zollen wollte.

Für Dieter Kürten bleibt genau diese Geste ein  eindeutiges Bekenntnis zur Türkei. "Er muss dann auch mit dem Echo leben können", betonte der 83-Jährige. Zudem müsse man die Rolle des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) viel deutlicher hinterfragen. "Da nehme ich mir diese Spieler doch mal zur Brust, und schicke sie nicht im Umkehrschluss zum deutschen Präsidenten", fügte er an. Genau das locke, weiß Marcel Reif, die falschen Leute aus den Ecken. Und es mache das Bild kaputt, das sich die Nationalmannschaft über Jahre hinweg erarbeitet hat – dass Migrationshintergründe keine Rolle spielen

Zusätzliches Gewicht an den Füßen der Fußballer

Es ist ein zusätzliches Gewicht an den Füßen dieser Fußballer, die als Titelverteidiger so oder so unter Druck stehen, so viel steht fest. Noch nicht einmal die überraschende Nicht-Nominierung von Leroy Sané konnte einen Schlussstrich unter die Diskussionen um das entstandene Foto setzen. Ein wenig Entlastung brachte sie trotzdem.

"Sané hat eine tolle Saison in England gespielt, wurde dort zum besten Jung-Profi gewählt. Und trotzdem halte ich es für richtig, dass Joachim Löw ihn zu Hause lässt", sagte Jürgen Kohler. "Er hat es in den Testspielen nicht geschafft, sein Können zu zeigen." Und er habe, betonte Kuntz, in den sozialen Medien eine gute Reaktion gezeigt – anders als andere, die die Tür zur Nationalelf endgültig geschlossen haben. Gemeint war der Rücktritt Sandro Wagners. "Das war, als würde ich als Raketenwissenschaftler zurücktreten", meinte Reif.

Und die Causa Manuel Neuer, die tagelang die Schlagzeilen beherrschte? Kurios sei diese Debatte gewesen, weil andere Nationen froh wären, wenn sie einen Marc-André ter Stegen im Tor haben könnten – das war der einstimmige Tenor der Runde. Neuer sei ohne Zweifel die Nummer eins, habe beim Testspiel gegen die U21 starke Paraden gezeigt, berichtete Kuntz, der mit seinen Mannen einige Tage im Südtiroler Trainingslager verbracht hatte: "Da haben sich alle umgedreht und geschaut, nach dem Motto: Da ist er wieder."

In Acht nehmen müsse sich die Mannschaft aber trotzdem – weil Spanien und Frankreich mit ihrer individuellen Klasse bereit sind, Deutschland das Bein zu stellen. Nicht nur Marcel Reif hofft, dass es Gündogan  – ähnlich wie Özil im Test gegen Österreich, nachdem er zur 1:0-Führung getroffen hatte –, schafft, die Diskussionen und Pfiffe mit Leistung verstummen zu lassen. Denn so ist das im  heutigen Fußball-Business: Die tragische Figur kann zum gefeierten Helden aufsteigen.