Vom Regie-Stand aus im Königlichen Kurtheater steuert Reto Müller die Einspielung seiner sogenannten Übertitel zu den jeweiligen Opernaufführungen. Foto: Kunert Foto: Schwarzwälder Bote

Kultur: Reto Müller gilt europa- sowie weltweit als einer "der" Experten für die Arbeit des Komponisten

"Rossini in Wildbad" – das ist auch ein Stück weit Reto Müller. Der Schweizer mit dem eigenwilligen Vornamen gilt europa- und weltweit als einer "der" Rossini-Experten schlechthin. Seiner zuweilen Detektiv-Arbeit ist manche Rossini-Entdeckung der vergangenen Jahre zu verdanken.

B ad Wildbad. Wer mit Reto Müller spricht, wird schnell mit dessen feiner eidgenössischen Ironie im Ton konfrontiert. Als würde er das Leben und seine Themen eher von der heiteren Seite sehen, sich und seine Arbeit nicht zu ernst nehmen wollen. Aber man sollte sich nicht täuschen lassen: Geht es um Rossini, steht man hier einer extrem souveränen und kompetenten Forscherpersönlichkeit gegenüber.

Spezielle Seminare

Müller ist heute geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Rossini Gesellschaft (DRG) und freier Mitarbeiter der Fondazione Rossini in Pesaro. Er fungiert als Herausgeber des DRG-Mitteilungsblattes und der Jahreszeitschrift "La Gazzetta".

Seine eigene Bibliografie-Liste mit Veröffentlichungen über den großen Komponisten, dem Müllers ganze Leidenschaft gehört, ist schier endlos. Seit 1991 begleitet er mit einer beratenden und organisatorischen Tätigkeit das Rossini-Festival in Bad Wildbad, hält hier während des jährlichen Festivals die Einführungsvorträge zu den verschiedenen Opern, veranstaltet spezielle Rossini-Seminare und schreibt die kommentierenden Beiträge für die Programmhefte. Außerdem ist er für die Übersetzung der im Original meist italienischen Libretti zuständig, die für die sogenannten Übertitel gebraucht werden – Text-Einblendungen mittels Beamer in Echtzeit während der Opernaufführungen, mit deren Hilfe das Publikum dem Handlungsverlauf und den Textpassagen in Original-Sprache und der analogen deutschen Übersetzung folgen kann.

Archaisches Italienisch

Nach seinem eigenwilligen, so schweizerisch klingenden Vornamen gefragt, erläutert Reto Müller, das dieser eigentlich "der, der reto-romanisch spricht" bedeute; Reto-Romanisch ist die traditionelle Sprache im Schweizer Kanton Graubünden. Tatsächlich spricht "Reto" Müller aber kein Reto-Romanisch, wie er lachend gesteht – dafür aber mittlerweile neben seiner Muttersprache "Schwizerdütsch" auch noch Italienisch – das er sich allein mittels seines Studiums endlos vieler Opern-Libretti angeeignet habe – allerdings nicht ganz ohne "Nebenwirkungen".

So würden italienische Muttersprachler ihm immer wieder ein zwar perfektes, aber "sehr archaisches Italienisch" bescheinigen. Sicher ein Erbe der barocken Librettisten, das Müller aber offensichtlich (und wieder augenzwinkernd) gerne zu tragen bereit ist. Diese kleine Sprach-Anekdote macht aber irgendwie auch deutlich, was für ein "Rossini-Besessener" dieser Reto Müller tatsächlich sein muss, wenn quasi ein komplettes Fremdsprachenstudium als Nebeneffekt seiner musikalisch-historischen Forschung über Rossini abfällt; schließlich publiziert Müller als Mitglied und Sekretär des Wissenschaftlichen Beirats der Fondazione Rossini hier mittlerweile ausschließlich in italienisch. Was wiederum nur natürlich erscheint, da ja auch Gioachino Rossini nun mal Italiener war.

Noch viel Arbeit

Hauptarbeit für Reto Müller in diesem Bereich derzeit – und wohl noch für sehr viele Jahre: die gesamte überlieferte Briefkorrespondenz des großen Rossini für die Nachwelt zu editieren, sprich "zu transkribieren und zu kommentieren", um sie dann jeweils in Buchform für die Fondazione Rossini herauszugeben. Drei Bände mit je 300 bis 400 Briefen von Rossini liegen so bereits vor, vier Jahre Arbeit steckt jeweils in einem solchen Band drin. "Ich müsste so 94 Jahre alt werden, um das ganze vorliegende Material in dieser Form zu veröffentlichen", sagt Müller wieder mit dieser feinen Ironie. Wobei die meiste Arbeit in den unendlichen Fußnoten stecke, mit denen Müller die Original-Passagen von Rossini aus dessen Briefen mit anderen Aussagen des Meisters oder auch der jeweiligen Zeitgeschichte verknüpft. Auf diese Weise entstehe nach und nach ein extrem komplexes, umfassendes, mehr- und multidimensionales Bild von der Person Rossini und sein Leben in seiner Zeit.

Reto Müller, der akribische Forscher, macht dabei den Eindruck, als hätte er diese Komplexität von Rossinis Leben stets vor seinem geistigen Auge präsent. Seine Einführungsvorträge in Wildbad hält er frei, ohne Manuskript, allein aus der Erinnerung heraus. Und trotzdem sind seine Vorträge dicht gespickt voller sachkundiger Details, die die Welt Rossinis für Müllers Zuhörer ungewöhnlich lebendig macht. Aber Müller winkt bei zu vielen Komplimenten über seine Arbeit wieder mit einem tiefgründigen Lächeln ab. Sein "Gedächtnispalast" sei eigentlich eher sein Computer, in dem er all die vielen Tausend Artikel über Rossini, die endlosen Quer- und Rückverweise zu einzelnen Themen speichere. "Aber vieles ist natürlich auch ständig präsent." Seit seinem 15. Lebensjahr sei er halt von Rossini gepackt; das fülle schon sehr viele seiner Synapsen im Gehirn aus.

Fährte wird aufgenommen

Und immer wieder "finden" sich bei seiner Arbeit zwei, drei Querverweise, die sich dann auf einmal miteinander verknüpfen lassen – wie etwa der Hinweis in einem Artikel über eine Sängerin aus der Zeit Rossinis, die neben dem Aschenbrödel von Stefano Pavesi ("Agatina o La virtù premiata") "›auch‹ das Aschenbrödel von Rossini" (gemeint ist die Oper "La Cenerentola") gesungen habe.

In solchen Fällen nimmt Reto Müller die Fährte auf und sucht in den bekannten Archiven und Bibliotheken nach mehr Belegen dafür, dass Pavesi möglicherweise Kollege Rossini für dessen Werk inspiriert haben könnte. Und ob sich aus dem so ergebenden "Bewegungsprofil" von Rossini gegebenenfalls Rückschlüsse auf den Verbleib von vielleicht verloren gegangenen Original-Partituren des Meisters finden ließen. "Manchmal dann wirklich echte Detektivarbeit."