Über den Besuch von Ruth Michel (Dritte von links) freuten sich Bürgermeister Dietmar Fischer (von links), die stellvertretende Landesvorsitzende der SPD, Dorothea Kliche-Behnke, Schuldekan Thorsten Trautwein sowie Frank Clesle und Martin Meyer von Zedakah. Fotos: Biermayer Foto: Schwarzwälder Bote

Geschichte: Shoa-Überlebende Ruth Michel bei Gedenkveranstaltung zu Gast / Ermordeten mit ihrer Geschichte eine Stimme geben

Anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee luden die Stadt Bad Liebenzell, das evangelische Schuldekanat Calw-Nagold und der Verein Zedakah die 91 Jahre alte Shoa-Überlebende Ruth Michel ein. Sie schilderte eindrücklich ihre Erlebnisse aus dieser Zeit. Dass so etwas nie wieder geschehen dürfe, war der Tenor aller Redner an diesem Gedenkabend.

 

Bad Liebenzell. 6,3 Millionen europäische Juden haben die Nationalsozialisten während ihrer Herrschaft ermordet. Das sind mehr Menschen als heute beispielsweise in Norwegen, Irland oder Hessen leben. Die schiere Zahl ist erschreckend genug – wenn man aber an all die Einzelschicksale denkt, wird dieses Verbrechen nahezu unbegreiflich.

Mit dem Zitat von Michel "Seid wachsam, damit so etwas nie wieder passiert" begrüßte Frank Clesle die rund 350 Gäste unterschiedlichsten Alters im Spiegelsaal. Aktuelle Ereignisse wie der Anschlag auf die Synagoge in Halle zeigten, dass man immer noch gegen Judenhass eintreten müsse. Auch deshalb engagiere sich sein Verein in der Antisemitismusprävention – zum Beispiel mit einer jährlichen Tagung zum Thema, an dessen Ende die Veranstaltung im Spiegelsaal stehe. Der große Andrang sei ein gutes Zeichen.

Bürgermeister Dietmar Fischer dankte den Organisatoren und Michel für ihr Engagement. Außerdem mahnte er, dass man im täglichen Miteinander ein Vorbild für die Jugend sein müsse.

Die stellvertretende Landesvorsitzende der SPD Dorothea Kliche-Behnke bemerkte in Bezug auf den Anschlag in Halle, dass "Nie wieder" mittlerweile leider bloße Mahnung statt Realität sei. Feinde der Demokratie machten Rassismus und Antisemitismus wieder salonfähig. Man müsse gemeinsam wachsam bleiben, denn man wisse nie, welcher Schritt der eine Schritt zu viel sei.

Schuldekan Thorsten Trautwein erzählte von bewegenden Momenten der Tagung, wie dem Besuch der Synagoge in Pforzheim. Außerdem machte er auf das Projekt "Papierblatt" (Infobox) aufmerksam.

Anschließend betrat Ruth Michel die Bühne. "Ich tue das, um den Ermordeten eine Stimme zu geben", erklärte Michel ihr Motiv als Zeitzeugin aufzutreten. Sie halte mittlerweile viele Vorträge an Schulen. Dies sei ihr persönlicher Kampf gegen Antisemitismus, welchen sie wieder auf dem Vormarsch sehe. "Ich war in keinem Konzentrationslager", stellte sie klar. Ihr Vortrag machte es aber möglich eine oft vergessene Seite des Völkermords an den Juden zu beleuchten: die der Massenerschießungen.

"Alle Juden, die ich in meiner Jugend kannte, sind tot. Ermordet von Deutschen. Ich bin die einzige Überlebende", begann sie ihre Geschichte. Sie wurde 1928 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, als Ruth Rosenstock geboren. Ihr Vater war Jude, ihre Mutter evangelische Christin. Außerdem hatte sie eine drei Jahre jüngere Schwester.

1933 kam Hitler an die Macht. Es wurden die ersten Konzentrationslager gebaut und Berufsverbote für Juden erlassen. 1935 folgten die "Nürnberger Rassegesetze", welche beispielsweise Ehen zwischen Deutschen und Juden verboten. Im selben Jahr floh Michels Familie in das im damaligen Polen und in der heutigen Ukraine liegende Mykulytschyn.

Die Wahl viel auf diesen Ort, da er außerhalb deutscher Reichweite lag und ihre Großmutter väterlicherseits dort lebte. In der neuen Schule sei sie wegen mangelnder Sprachkenntnisse gehänselt worden. "Ich habe in dieser Zeit gelernt zu kämpfen", erzählte Michel. Diese Fähigkeit habe ihr später geholfen zu überleben.

Im September 1939 überfiel die Wehrmacht Polen. In einem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes beschlossen beide Mächte die Aufteilung dieses Landes. Dies hatte zur Folge, dass Mykulytschyn russisch besetzt wurde. Im westlichen Teil Polens errichteten die Deutschen das Konzentrationslager Auschwitz.

Die Frau erinnert sich noch heute an die Kindheit, die früh für sie endete

Im Juni 1941 griff die Wehrmacht dann trotz Nichtangriffspakts die Sowjetunion an. "Die Katastrophe für die Juden in Mykulytschyn begann", beschrieb es Michel. Tief fliegende Flugzeuge schossen auf die Zivilbevölkerung. Die russische Armee war geflohen.

"Dann kam die Gestapo", so Michel weiter. Die Deutschen hätten Ukrainer beauftragt über die Einhaltung ihrer Regeln zu wachen. Die Ukrainer hätten sich wie Vandalen aufgeführt und die Juden des Ortes schikaniert. Die Juden seien macht- und rechtlos gemacht worden.

Ihr Vater sei dann auf die Idee gekommen, dass seine Familie ohne ihn sicherer sei. "Er dachte, dass uns die Deutschen wegen unserer christlichen Mutter in Ruhe ließen", erinnert sie sich. Deshalb verließ der Vater die Familie um sich in einem 15 Kilometer entfernten Ort zu verstecken. Der Vater übergab der 13-jährigen Ruth die Verantwortung für die Familie, da sie als einzige die dortige Sprache verstand. "An diesem Tag endete meine Kindheit", brachte sie es auf den Punkt.

Es sei in dieser Zeit schwierig gewesen an Nahrung zu kommen, weil Juden keine Geschäfte mehr betreten durften. In den Bergen habe es ein Dorf gegeben, in dem man Hausrat gegen Nahrung eintauschen konnte. Als einziges Kind einer Gruppe machte sie sich dorthin auf den Weg. So versorgte sie ihre Familie und ihren Vater mit Nahrung, stets in der Angst, entdeckt zu werden.

Bei einem Hochwasser wurde das Haus der Familie in Mykulytschyn zerstört. Der Vater kam zurück und fand eine neue Unterkunft. "Es machte ihn wahnsinnig, dass er nichts tun oder arbeiten konnte", erinnerte sie sich. Er erfuhr von einem Sägewerk, das noch Juden anstellte und begann sogleich dort zu arbeiten. Ein verheerender Fehler, wie sich herausstellte.

"Wir lebten ständig zwischen Angst und Hoffen", beschrieb Michel die Situation. Viele Juden seien nach Rumänien geflohen. "Und dann kam der 9. Dezember 1941", erzählte sie. Sie habe an diesem Tag erfahren, dass die Deutschen gerade alle Juden aus dem Sägewerk abholten. Sie ging sofort los, um ihren Vater zu warnen, aber dafür war es zu spät. Sie und ihre Familie versteckten sich daraufhin über die Nacht bei minus 20 Grad im Wald. Von dort aus beobachteten sie, wie weitere Juden abgeführt wurden.

Die Suche nach ihrem Vater blieb erfolglos. Stattdessen beobachtete sie, wie die Zivilbevölkerung die Wohnungen der Juden plünderte. Die verhafteten Juden wurden im Gemeindegefängnis in drei kleine Zellen gesperrt. "Die Babys starben in den Händen ihrer Mütter", so Michel. Das seien deutsche Männer gewesen, vielleicht hätten sie selbst Kinder gehabt, vielleicht seien sie Christen gewesen. "Die haben sich dieses unmenschliche Szenario ausgedacht", stellte sie klar.

Die gefangenen Juden seien mit Lastwagen abtransportiert worden. Sie hätten sich in mehreren Schichten auf die Ladefläche legen müssen. Schon dabei seien die ersten gestorben. Die Fahrt habe vor einer Grube geendet. Dort hätten sich die Menschen ausziehen müssen und seien mit einem Genickschuss ermordet worden.

"Stellen sie sich für einen Moment vor was in diesen Menschen vorgeht. Sie stehen nackt, barfuß im Schnee, sehen wie ihre Freunde und Familie erschossen wird. Und sie wissen gleich sind sie dran", richtete sie einen eindrücklichen Appell an das Publikum. "Und die ganze Welt schwieg", meinte sie weiter. Die Amerikaner und Engländer hätten beispielsweise nie die Gleise nach Auschwitz bombardiert.

Ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihr gelang schließlich 1943 die Flucht nach Königsberg, wo sie bei der Großmutter mütterlicherseits Unterschlupf fanden und sich als polnische Zwangsarbeiter tarnten. Ihre Schwester starb in dieser Zeit an Tuberkulose.

Die Deutschen begingen währenddessen in zahlreichen Gettos und Vernichtungslagern den industrialisierten Völkermord an den Juden. Sogar in den letzten Kriegsmonaten rollten noch die Deportationszüge und Massenerschießungen fanden statt, bis die Deutschen schließlich von den Alliierten besiegt wurden.

Michel kam nach dem Krieg nach Stuttgart. 2010 reiste sie nach Mykulytschyn in die Ukraine, um das Massengrab zu finden. Seither lässt sie es pflegen, um so die Erinnerung wachzuhalten. Dies versucht sie auch durch Vorträge. Außerdem hat sie 2010 mit "Die Flucht nach vorne" ihre Geschichte als Buch veröffentlicht. Martin Meyer von Zedakah dankte Michel schließlich dafür, dass sie den Zuhörern einen Einblick in die Geschichte ihres Lebens, ihrer Familie und ihre Volkes gewährt habe.

"Das ist für mich selbstverständlich", meinte Michel. Sie sei zudem besorgt über die aktuelle Lage der Juden in Deutschland. Jude sei in Schulen wieder ein Schimpfwort. Generell seien die Deutschen nicht gerade judenfreundlich, auch wenn sie selbst noch keine Angriffe erlebt habe. Es sei allerdings so, dass das Interesse an der jüdischen Geschichte und der Shoa sinke.

"Als ich nach dem Krieg mit Leuten geredet habe, hatte ich das Gefühl jeder war im Widerstand oder Kommunist", erzählt sie. Zu dieser Zeit sei auch viel totgeschwiegen worden. Heute werde es zwar thematisiert, trotzdem sei der Antisemitismus wieder auf dem Vormarsch, wie der Anschlag in Halle zeige. "So etwas ist jederzeit wieder möglich", warnte sie. Dass der Antisemitismus noch immer ein großes Thema ist, zeigt eine Umfrage des World Jewish Congress in Deutschland aus dem vergangenen Jahr.

Demnach haben ein Viertel der Deutschen antisemitische Einstellungen. 24 Prozent der Befragten gaben an, dass Juden zu viel Macht über die internationalen Finanzmärkte und die Weltpolitik haben. Ein anderes Zeichen für den Judenhass ist, dass Politiker wie das fraktionslose AfD-Mitglied Wolfgang Gedeon in den baden-württembergischen Landtag gewählt werden. Gedeon veröffentlichte Schriften über eine angebliche jüdische Weltverschwörung und bezeichnet Holocaustleugner als Dissidenten.

"Seid wachsam, damit so etwas nie wieder passiert", mahnte Michel am Ende ihre Vortrags. Für sie ist der Kampf gegen Antisemitismus und für die Erinnerung an die Opfer eine Lebensaufgabe.

Das Projekt Papierblatt hat es sich zur Aufgabe gemacht, Zeitzeugenberichte von Shoa-Überlebenden zu sammeln und zu digitalisieren. "Nicht jeder hat die Möglichkeit einen Zeitzeugen persönlich zu treffen", meint Frank Clesle von Zedakah. Dieser Verein betreibt das Projekt gemeinsam mit dem Schuldekanat Calw-Nagold und Morija.

Man möchte damit Interessierten und Bildungseinrichtungen einen Zugriff auf authentische Berichte ermöglichen. Der Name des Projekts kommt von Mordechai Papirblat, einem 1923 in Polen geborenen Juden. Er überlebte das Warschauer Getto sowie Auschwitz und ging schließlich nach Israel. Dort haben ihn Vertreter des Projekts interviewt. "Wir wollen diese Geschichten möglichst vielen Menschen zugänglich machen", erklärt Clesle. Es gibt noch rund 200 000 Shoa-Überlebende in Israel. Altersbedingt werden dies immer weniger. "Papierblatt" möchte so durch das Video-Projekt auch die Erinnerung wachhalten, wenn es mal keine Zeitzeugen mehr gibt.

"Der persönliche Lebensbericht eröffnet eine Beziehung von Mensch zu Mensch", erklärt Clesle.

Die Inhalte können kostenfrei über die Plattform www.papierblatt.de abgerufen werden.