Mordechai Papirblat überlebte das Vernichtungslager Auschwitz.Foto: Privat Foto: Schwarzwälder Bote

Geschichte: Shoa-Überlebender Mordechai Papirblat berichtet über sein Leben / Zedakah organisiert Gedenkveranstaltung

Seit fünf Jahren organisiert der Verein Zedakah Veranstaltungen zum Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Mit dem Schuldekanat und der Stadt Bad Liebenzell will man an das Menschheitsverbrechen der Shoa erinnern.

Bad Liebenzell. Dieses Mal stand das Leben des 97-jährigen Mordechai Papirblat im Vordergrund. In seinen 1995 erschienen Memoiren spiegeln sich weltgeschichtliche Ereignisse. Papirblat sollte live aus Tel Aviv in die online abgehaltene Gedenkveranstaltung zugeschaltet werden, was aber nicht richtig funktionierte. Kurzerhand berichtete Schuldekan Thorsten Trautwein aus Papirblats Leben. Die beiden lernten sich im Rahmen der Übersetzungsarbeiten für die Biografie kennen.

Mordechai Papirblat wurde am 25. April 1923 im polnischen Radom geboren. Dort wuchs er auf, bis die Familie 1934 nach Warschau zog. Hier besuchte er eine jüdische Schule, feierte seine Bar Mitzwa (religiöse Mündigkeit) und verbrachte Zeit mit seinen vier Geschwistern. Doch dieser Lebensabschnitt fand ein abruptes Ende.

Am 1. September 1939 überfiel die Wehrmacht Polen. Die polnische Kapitulation hatte ein Arbeitsverbot für Papirblats Eltern zur Folge. Seine Schule wurde geschlossen. Er leistete Zwangsarbeit, um etwas Geld für die Familie zu verdienen. Da die Lage sich nicht besserte, suchte die Familie über den Sommer 1940 Unterschlupf bei Verwandten auf dem Land, kehrte dann aber nach Warschau zurück. Die Deutschen ließen das Warschauer Getto errichten, in dem die Wohnung der Papirblats war.

Im April 1941 gelang ihm die Flucht aus dem Ghetto. Zuerst mit dem Schiff über die Weichsel, dann zu Fuß, schaffte er es zu seiner Tante nach Westpolen. Im gleichen Jahr verhungerte sein Vater im Getto. Seiner Mutter und drei Geschwistern gelang ebenfalls die Flucht. Die jüngste Schwester musste zurückbleiben und starb kurz darauf in einem Waisenhaus.

Die übrige Familie schaffte es zu Mordechai. Doch seine entkräftete Mutter starb dort wenig später. Weil die Versorgungslage prekär war, organisierte Papirblat für seine drei Geschwister Unterkünfte bei unterschiedlichen Verwandten. Es war das letzte Mal, dass er sie sah. Alle wurden unter bis heute ungeklärten Umständen von den deutschen Besatzern ermordet.

1942 steckten diese ihn ins Getto von Garbatka. Er lebte in der ständigen Angst, dass seine Flucht aus Warschau entdeckt würde, denn darauf stand die Todesstrafe. Im Juli wurde er nach Auschwitz deportiert. Er wurde der Häftling mit der Nummer 46794. In verschiedenen Lagerteilen und Arbeitskommandos leistete er unter ständiger Todesangst Zwangsarbeit.

Flucht gelungen

Im Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz wegen des Vormarsches der Roten Armee "evakuiert". Die Folge war ein Todesmarsch in das Außenlager KZ Blechhammer. Von dort gelang ihm am 23. Januar die Flucht gemeinsam mit 19 Häftlingen – nach für ihn insgesamt über 900 Tagen in Auschwitz. Sie versteckten sich im Wald und Scheunen, bis ein russischer Soldat die Gruppe entdeckte. Krieg und Verfolgung waren für Papirblat vorerst vorbei.

Er kehrte nach Radom zurück, wo er das Haus seiner Familie zerstört vorfand. Mit 25 anderen überlebenden Juden schloss er sich zusammen, um sich auf ein Leben im Kibbuz vorzubereiten. Das Ziel lautete Israel, denn trotz Ende der Nazi-Herrschaft wurden Juden noch immer angefeindet. Zwei Frauen aus der Gruppe wurden von einem polnischen Mob ermordet. Mit gefälschten Papieren gelang der Gruppe die Flucht nach Italien. Hier unterstützte die jüdische Gemeinde Menschen bei der Flucht nach Palästina. Die Gruppe schaffte es Anfang 1946 auf ein Schiff, welches sie nach Haifa bringen sollte. Palästina stand damals unter britischem Mandat. Flüchtlingen war die Einreise nur begrenzt erlaubt.

Deshalb brachte die Royal Navy das Schiff der Gruppe auf und steckte alle in ein Sammellager nahe Haifa, da sie ihnen die illegale Einreise vorwarf. Weil sie in internationalen Gewässern aufgebracht wurden, ließ das Gericht den Vorwurf fallen. Die Gruppe kam frei und erhielt Papiere. Gemeinsam errichteten sie ein Kibbuz im Jordantal. Doch dieser Lebensstil sagte Papirblat nicht zu. Er zog nach Tel Aviv und arbeitete bei einer Tageszeitung als Schriftsetzer. Als am 14. Mai 1948 Israel seine Unabhängigkeit erklärte, begann ein Krieg gegen die arabischen Nachbarstaaten. Papirblat kämpfte mit einer Einheit in der Wüste Negev und wurde schwer verwundet. In der Reha traf er einen entfernten Großcousin wieder, dessen Familie bereits 1919 nach Palästina ausgewandert war. Er war einer der wenigen Verwandten, die Papirblat noch hatte.

Nach dem Krieg arbeitete er weiter als Schriftsetzer für Tageszeitungen. 1954 heiratete er seine Frau Sima, mit der er zwei Söhne, Shlomo und Zvi, bekam. In der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem verfasste er Gedenkblätter für seine Familie und Verwandten. 1992 bereiste er mit seinen Söhnen Polen und besuchte Orte seines früheren Lebens. 1994 übergab er ein Manuskript an Shlomo, aus dem seine Biografie entstehen sollte. Für Schuldekan Trautwein war es bei der Gedenkfeier wichtig, über Papirblat nicht nur im Zusammenhang mit der Shoa zu reden. Auf die Frage wie er das alles geschafft habe, antworte Papirblat immer: "Man braucht jeden Tag ein Wunder, manchmal sogar zwei."

Viele Juden hätten nach ihrer Einwanderung nach Israel hebräische Namen angenommen, so Trautwein. Papirblat war es aber wichtig seinen Namen zu behalten. "Mein Name ist ein Denkmal", werde er nicht müde zu betonen. In ihm lebe das Andenken an seine Familie weiter. Dass er Enkel und Urenkel hat, bezeichnet er als "persönlichen Sieg über Hitler", erzählte Trautwein.

Frank Clesle von Zedakah machte in seiner Ansprache auf die aktuelle Relevanz der Geschichte Papirblats aufmerksam. Zwar seien die heutigen Generationen nicht für damalige Verbrechen verantwortlich, jedoch aber für die heutige Situation. Und die sei besorgniserregend. Aus Gesprächen mit Shoa-Überlebenden wisse er, dass viele damals nicht nur Angst vor den Tätern hatten, sondern auch vor den "Zuschauern". Ähnlich sah es Dekan Erich Hartmann. Er betonte die Wichtigkeit der Erinnerung.

Bürgermeister Dietmar Fischer nahm die jungen Leute in die Pflicht. Sie müssten sich für die demokratischen Werte einsetzten, auch wenn sie selbst keine Zustände wie Krieg und Verfolgung kennen würden.

Der Landesbeauftragte gegen Antisemitismus, Michael Blume, lenkte das Augenmerk in seiner Videobotschaft auch auf die 1700 Jahre jüdisches Leben, das in diesem Jahr mit vielen Veranstaltungen gefeiert werde.