"Weltordnung ohne den Westen?" heißt sein neues Buch: SPD-Politiker Gernot Erler war in Bad Liebenzell auf Einladung der Volkshochschule zu Gast. Foto: Meinert Foto: Schwarzwälder Bote

Vortrag: Politiker Erler zu Gast

Bad Liebenzell. Die USA irrlichtern, Russland wird immer autoritärer, China ist auf dem Sprung zur Weltmacht – und ausgerechnet jetzt schwächelt die EU wie nie zuvor. Kein Zweifel: Die Welt ist aus den Fugen geraten. "Weltordnung ohne den Westen?" heißt denn das neue Buch des ehemaligen Bundestagsabgeordneten und außenpolitischen Experten Gernot Erler.

Nun gab sich der SPD-Politiker in Bad Liebenzell die Ehre. Um es gleich zu sagen: Bemerkenswert und sympathisch ist nicht zuletzt die Ehrlichkeit des Redners: Erler gibt am Ende seines gut einstündigen Vortrags nicht vor, wirklich rasche und durchschlagende Lösungen parat zu haben.

Eingeladen hat die Volkshochschule, der Lesesaal im Bürgerzentrum ist voll besetzt, das Interesse groß. Der 74-Jährige Erler, der immerhin 30 Jahre im Bundestag saß, schlägt den großen Bogen. Vom Kalten Krieg der Nachkriegszeit zur Fall der Mauer und dem Ende der Sowjetunion, der ersten Etappe der Zeitenwende sozusagen. Manche frohlockten damals schon, der Westen habe endgültig gesiegt, die Demokratie für immer die Oberhand gewonnen – was sich als schwerer Irrtum erweisen sollte. Die nächsten Volten der Geschichte, so Erler, brachten dann die Anschläge vom 11. September 2001, der weltweite Terror der Islamisten – und der Rückzug der USA aus Europa und aus den großen Weltkrisen, den Ex-Präsident Barack Obama nach 2008 einleitete. Erlers These: "Russland und China haben den Rückzug als Zeichen der Schwäche wahrgenommen" – und das Vakuum energisch ausgenutzt.

Wenig hoffnungsvoll

Russland ist sozusagen das Leib- und Magenthema Erlers, der jahrelang als "Russlandkoordinator" der Bundesregierung tätig war. Die derzeitige Eiszeit bezeichnet er denn als "tiefste Krise zwischen Russland und dem Westen seit Ende des Zweitens Weltkrieges". Doch die Krise sei nicht über Nacht gekommen, Erler sieht sie vielmehr als Folge eines "langfristigen Entfremdungsprozesses". Moskau werfe dem Westen vor, die Schwächephase Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion schamlos ausgenutzt zu haben – etwa durch die Ausweitung der NATO und der EU bis an die Grenzen Russlands. Nicht zuletzt fühle sich Moskau gedemütigt, von Washington nicht mehr als Weltmacht auf Augenhöhe betrachtet zu werden – und empfinde kaum verhohlene Freude über jede Schwächung der EU und des Westens.

Verzwickt und wenig hoffnungsvoll sei auch die Entwicklung in den USA. "Donald Trumps größtes Interesse ist es, alles kaputt zu machen, was Obama aufgebaut hat", so Erler. Die Zerstörungswut reiche vom Iran-Deal bis zum Pariser Klimaabkommen. Das wahre Ziel der "Abrissbirne" (Erler) sei aber der Multinationalismus und die internationalen Organisationen wie UNO und EU. Am liebsten würde Trumps Deals abschließen, bei denen "die Weltmacht USA nur mit einem einzigen kleinen Land am Tisch sitzen – dann weiß man immer schon vorher, was herauskommt". Fazit Erler: "Der Trend ist unübersehbar: Es geht um kurzfristige Interessen, alles andere ist egal."

Und was macht Europa? Ausgerechnet in diesen historischen Umbruchzeiten, in denen in der Weltpolitik die Karten neu gemischt werden, steckt die EU in der Krise, wirkt verzagt und zum großen Wurf nicht bereit. Zwar erweist sich Erler, wenig überraschend, als überzeugter EU-Anhänger. "Eigentlich kann die EU auf eine große Erfolgsgeschichte zurückgreifen", meint er. Das ist ein braver Satz – doch er beginnt nicht zufällig mit dem vielsagenden Wörtchen "eigentlich". Will sagen: Im Grunde stimmt’s ja mit der Erfolgsstory, aber in Wirklichkeit sieht’s im Augenblick ganz anders aus.

Erler ist Realist, er sieht die schweren Defizite und akuten Gefahren der EU: Die Folgen der Finanz- und Eurokrise seien noch längst nicht überwunden, die ökonomische Kluft zwischen Nord- und Südeuropa schlichtweg unerträglich. „Es kann nicht sein, dass es Länder mit über 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit gibt.“ Hinzu kämen der Aufstieg „illiberaler Demokratien“, wie er mit Blick auf Polen und Ungarn sagt – vom Rechtspopulismus etwa in Deutschland, Frankreich und Italien ganz zu schweigen.

Älteres Publikum

Vieles, was Erler an Details vorträgt, ist nicht wirklich neu, auch seine Schlussfolgerungen und Analysen sind es nicht. Bemerkenswert jedoch ist sein erstaunlich offenherzig formuliertes Fazit: "Solange die EU nicht handlungsfähig ist, können sich die USA und Russland ins Fäustchen lachen". Sonderlich hoffnungsvoll stimmt das nicht. Der Beifall des ausschließlich älteren Publikums ist dennoch lang und herzlich.