Eine frühere Führungskraft bewirbt sich aus der Arbeitslosigkeit heraus bei Tausenden Arbeitgebern und scheitert jedes Mal. Für den Stuttgarter ist dies ein Signal von Altersdiskriminierung in den Unternehmen. Auch mit der Arbeitsagentur macht er sehr gemischte Erfahrungen.
Da zeigen sich die Experten einig: Um die Personallücken der Unternehmen nicht immer größer werden zu lassen, müsse man vor allem die gut qualifizierten Babyboomer möglichst lange im Arbeitsleben halten. Der Stuttgarter Heinz Rettenberger jedoch mag das „Gejammere der Firmen und Behörden über den Fachkräftemangel nicht mehr hören“. Der 61-Jährige ist seit 17 Monaten ohne Arbeit. Die Gründe des Mangels lägen auch bei den Firmen selbst, sagt er.
Rettenberger war 28 Jahre als Abteilungsleiter Logistik und Einkäufer eines renommierten Unternehmens der Region tätig, hatte bis zu 120 Kräfte zu führen und war zudem Ausbildungsbeauftragter. Weil er sich lange Zeit durch den Geschäftsführer respektlos behandelt fühlte, verfiel er erst in eine Depression, absolvierte eine Therapie plus Reha und wurde Ende Februar 2023 mit einer Abfindung herausbefördert. Er würde gerne noch bis 65 arbeiten und hat bisher 2167 Bewerbungen ausgesandt – ohne Erfolg.
Zum Spezialisten für Online-Bewerbungen entwickelt
Rettenberger interessiert sich für ein großes Spektrum von Führungspositionen, aber auch Sachbearbeiterstellen. „Ich bin wegen meiner früheren Tätigkeit sehr breit aufgestellt.“ Nach seiner Erkrankung war er über das Programm Teilhabe am Arbeitsleben in ein berufliches Trainingszentrum gekommen. Zudem hat ihm die Rentenversicherung für drei Monate einen Jobcoach bezahlt, der bis Juli geholfen hat, 1863 Initiativbewerbungen auf den Weg zu bringen.
Zudem hat er 304 Mal selbst auf Online-Stellenausschreibungen mit Anschreiben, Lebenslauf und Zeugnissen reagiert. Da habe er sich schon zum Spezialisten entwickelt, sagt Rettenberger. Überwiegend müsse man sich dafür auf den Firmenaccounts einloggen; bei Dutzenden Arbeitgebern sei er inzwischen mit seinem Profil hinterlegt.
Auch in Norddeutschland würde er arbeiten
Generell legt er sich in Deutschland kaum Grenzen auf. Bundesweit und selbst in der Schweiz würde er anfangen, um dann am Wochenende nach Stuttgart-Hofen zu pendeln, wo er im schmucken Einfamilienheim lebt. Zum Beispiel bewarb er sich beim Schuhhändler Deichmann auf Positionen in Norddeutschland oder bei der Bundeswehr, die ein neues Logistikzentrum bei Bremen hochzieht. Mit solchen Projekten habe er Erfahrungen, meint er.
Dennoch hat er nicht immer Absagen bekommen, vielmehr hat etwa jedes fünfte (Groß-)Unternehmen gar nicht reagiert. „Viele schicken nicht einmal eine Eingangsbestätigung, sondern gleich nach vier Wochen die Absage.“ Auch kämen wegen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Prinzip keine Begründungen, sondern nur Standardformulierungen zurück. „Daran halten sich die Firmen strikt.“ Lediglich in wenigen Ausnahmefällen habe er nähere Auskünfte zur Ablehnung erhalten. Einmal hat er von sich aus abgewunken: Ein Maschinenbauer in Schorndorf wollte ihn für den Aufbau seines Vertriebs gewinnen, doch hat Rettenberger noch nie im Vertrieb gearbeitet. „Da musste ich ihn erst überzeugen, dass ich dafür nicht geeignet bin.“
Bei 304 Bewerbungen elfmal zum Vorstellungsgespräch eingeladen
Bei elf der 304 regulären Bewerbungen sei er zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden, dreimal sei er in die zweite Runde vorgedrungen – „das war es dann“. Ansonsten habe er immer wieder den Eindruck, dass er für die fraglichen Stellen überqualifiziert sei und daher abgewiesen werde. Diese Einschätzung habe er mehrfach gehört, auch von der Arbeitsagentur. Selbst der Jobcoach hatte letztlich keine Idee mehr, was man bei den Bewerbungen noch verbessern könne.
So sieht der 61-Jährige die Verantwortung vor allem bei den Arbeitgebern: Die Kammern zum Beispiel propagierten doch immer groß die Erfahrung älterer Mitarbeiter. Doch als die IHK mal einen Prüfungskoordinator für kaufmännische Ausbildungsberufe und die Handwerkskammer einen Seminarmanager gesucht hätten, „konnte ich gar nicht so schnell gucken, wie da die Absage kam“. Die Handwerkskammer Region Stuttgart betont gegenüber unserer Zeitung, dass das Wissen und die Erfahrungen von älteren Mitarbeitenden sehr wertvoll seien, weshalb das Alter bei der Stellenbesetzung in ihrem Bereich kein Nachteil sei.
„Ich biete mich teilweise schon zu Dumpingpreisen an“
Das Geld ist nicht der entscheidende Antrieb für Rettenberger. Früher hat er zwar gut verdient, jetzt erhält er nur noch rund die Hälfte als Arbeitslosengeld. Wenn er in der Vergangenheit nicht „ordentlich gewirtschaftet“ hätte und das Haus abbezahlt wäre, „hätte ich jetzt ein Problem“. Auch zehrt er noch von der Abfindung des früheren Arbeitgebers, die er sich freilich erst vor Gericht erkämpfen musste.
Die Arbeitsagentur habe ihm gesagt, dass ein Abschlag von 30 Prozent gegenüber dem letzten Einkommen zumutbar wäre. „Das wäre ein Jahresgehalt von 70 000 Euro.“ Entsprechend bewerbe er sich auch als Sachbearbeiter. Und er kann es sich leisten, in den Vorstellungsgesprächen finanzielle Abstriche zu machen. „Ich biete mich teilweise schon zu Dumpingpreisen an.“ In einer Führungsposition ließen sich je nach Anzahl der unterstellten Mitarbeitenden 80 000 bis 120 000 Euro (brutto) herausholen. „Also gehe ich dann 10 000 oder 20 000 darunter und kriege trotzdem die Absage.“ Da sei es für ihn eindeutig, dass es ihm nicht mehr zugetraut werde – „eine Altersdiskriminierung“ also.
Nervenaufreibende Zusammenarbeit mit der Arbeitsagentur
Seine Erfahrungen mit der Arbeitsagentur sind zwiespältig: „Mühsam und nervenaufreibend“ sei die Zusammenarbeit teilweise gewesen, bis alles richtig auf die Schiene gesetzt gewesen sei. Dreimal habe er das Arbeitslosengeld beantragt, jedes Mal sei es abgelehnt worden. Eine Klage beim Sozialgericht brachte rasch die Wende.
Auch habe er von der Arbeitsagentur schon 13 Jobvorschläge bekommen, um die er sich zuvor schon großteils beworben hatte. Teilweise bekäme er die Vorschläge doppelt – einerseits digital und andererseits in Papierform. Ein Teil der Vorschläge werde vom System automatisch gemeldet, ein anderer Teil werde „von einem Menschen irgendwo bei der Arbeitsagentur“ herausgesucht.
Irgendwann hat er eine „richtige gute Ansprechpartnerin bekommen“, und die habe mal auf ein Gespräch am Vortag mit einem anderen Arbeitslosen hingewiesen: „Der ist fünf Jahre jünger als Sie und hat das gleiche Problem, der schreibt auch Bewerbungen, dass wir zufrieden sind“, habe sie gesagt. Er, Rettenberger, solle mal einfach so weitermachen und „gucken, dass ich die zwei Jahre bis zum vorzeitigen Renteneintritt mit 63 irgendwie rumkriege“, lautete die Botschaft. „Die wollen sehen, dass ich aktiv bin“, sagt er. „Große Unterstützung kommt da nicht.“
„Mein Typ ist nicht mehr gefragt“
Arbeitslosengeld könnte er insgesamt zwei Jahre bis Februar 2026 bekommen. Dann käme bereits die reguläre Altersrente in Sichtweite. So zieht er schon heute ein bitteres Fazit: „Mein Typ ist nicht mehr gefragt.“ Da mache er sich als Realist keine falschen Vorstellungen. „Ich werde keinen Job mehr bekommen.“ Er könne es gar nicht beschreiben, wie gerne er wieder arbeiten würde, doch fühle er sich wie nach einem Berufsverbot. „Man möchte und darf nicht – das ist schon heftig.“ Unverdrossen betreibt er täglich Stellenrecherche – „im Prinzip als Beschäftigungstherapie“, wie der 61-Jährige meint. Es gebe so interessante Stellen auf dem Markt, dass er nach der Bewerbung insgeheim hoffe, es könnte doch etwas sein. So keimt immer neue Hoffnung auf – „aber spätestens mit der Absage hat sich das wieder erledigt“.