Sibylle Berg stellt ihr Buch am 1. Oktober in Stuttgart vor. Foto: Katharina Lütscher

Sibylle Berg hat ein neues Buch geschrieben und macht sich Gedanken über den „neoliberalen Wachstumswahn“.

Die Schriftstellerin Sibylle Berg präsentiert ihren Roman „Vielen Dank für das Leben“ in Stuttgart. Sie erzählt vom Leben eines Zwitterwesens namens Toto und analysiert deutsche Verhältnisse. Ein Gespräch über arme Banker, Lebensglück, Macht und Frauen.

Frau Berg, warum wird der zwittrige Toto in Ihrem Roman „Vielen Dank für das Leben“ als Junge und nicht als Mädchen registriert?
Als was Toto im Roman anfangs festgelegt wird, war zufällig, es hätte auch zuerst eine weibliche Zuschreibung sein können. Es ging mir um die Absurdität von geschlechtsstereotypen Zuschreibungen, die ich untersuchen wollte.

Würde es helfen, Kinder nicht nach diesen Zuschreibungen zu erziehen?
Eine geschlechterneutrale Erziehung wäre immerhin ein Versuch, um eine wirkliche Gleichberechtigung zu erreichen. Irgendwann.

Zu Totos Zeit gibt es die nicht. Und Toto wird auch von fast allen Menschen gehasst. Warum ist es schwer, sich damit abzufinden, dass es nicht nur sogenannte Normale gibt?
Einige Menschen suchen in ihren Artgenossen nur die Bestätigung des eigenen, meist nur in Erfüllung sozialer Vorgaben zurechtgezimmerten Lebensentwurfs. Viele spüren eine Unzufriedenheit, die sich daraus ergibt, wenn man versucht im Rahmen einer vorgegebenen Normalität zu existieren. Andersartigkeit ist eine Störung des Selbstbildes. Der Mensch, das können wir in der Problematik von männlichen Führungscliquen zum Beispiel prächtig beobachten, umgibt sich lieber mit anderen, die ihm ähneln.

Erziehung ist ein wichtiges Thema in Ihrem Roman. Heute gibt es Unmengen an Erziehungsratgebern. Wächst der Druck?
Der Druck auf uns wächst in jeder Hinsicht. Ob es um unsere Körper oder unsere Kinder geht – wir sind ständig mit den Anforderungen des Systems konfrontiert, denen wir nur durch schwungvolles Konsumieren begegnen können. Im Fall der Kindererziehung bedeutet das: Wir brauchen Kinderhelme, kindergerechtes Spielzeug, kindergerechte Ernährung, kindergerechte Fahrzeuge, Bekleidung, das kindergerechte Heim, dazu benötigen wir Wachstum, unbedingt. Bürger, die permanent mit dieser Form der Selbstkontrolle beschäftigt sind, hinterfragen das politische System natürlich weniger – wann auch?

 

„Wir träumen von bildungsbürgerlichen Eliten, die es nicht mehr gibt“

Und womöglich verfallen sie in eine Art Neokonservatismus? In dem Kapitel „Die Mitte“ analysieren Sie die Zeit heute. Sie konstatieren eine Sehnsucht nach der alten Zeit. In Ihrem Blick auf die nahe Zukunft heißt es: „Der elitäre Mensch blieb zu Hause und spielte die alten Werte nach.“
Wer es sich leisten kann, träumt von der scheinbaren guten alten Zeit – sicher, das war doch immer so. Wir träumen von bildungsbürgerlichen Eliten, die es nicht mehr gibt, oder von einem lebenslangen Angestelltenverhältnis. Der Mensch ist meist nur in seiner Jugend Utopien gegenüber offen und wird in zunehmendem Alter konservativer.

Sie schildern ja sehr schön in Zwischenkapiteln den jeweiligen Stand der Gesellschaft und bieten einen Ausblick bis 2030. Schlimm bleibt es. Sind wir unrettbar?
Ich glaube, dass wir im westlichen Europa noch eine sehr gute Zeit auf dieser Welt erlebt haben. Von persönlichen Tragödien abgesehen, geht es uns gesellschaftlich sicher besser als in der patriarchalen, nicht entnazifizierten Spießigkeit der 50er Jahre. Von der Zeit davor nicht zu reden. Ich habe keine Ahnung, ob die westliche Welt ihren Zenit überschritten hat und sich nun in einem Prozess des Machtunterganges befindet. Im Buch wollte ich versuchen, die Zeit, in der wir leben, wie in einem Geschichtsbuch zu komprimieren. Denn das ist, worin wir uns aufhalten – Geschichte in naher Zukunft. Die wir in einer Demokratie natürlich mit beeinflussen können.

Glauben Sie wirklich?
Wir können uns informieren, wir können unsere Stellvertreter in die Regierung wählen, und wenn die Mehrheit der Menschen auf unhinterfragtes Wachstum und eine schwarz-gelbe oder im Falle Amerikas auf eine republikanische Regierung setzen, dann ist es eben so. Dann können wir uns weiter kleinteilig in Umweltorganisationen oder Tierrechtsorganisationen engagieren. Wir haben sogar die Möglichkeit, uns selber politisch zu engagieren. Es geschieht weitgehend, was wir, was die Mehrheit der Menschen möchte.

Die Figuren in Ihrem Roman begehren weniger auf, vor allem die Frauen geben sich auf oder scheitern. Wollen Frauen zu wenig?
Ich schreibe eigentlich, bis auf jetzt über Toto, nie über konkrete Personen mit Psychogrammen, Entwicklungen und so weiter. Die Personen in meinen Büchern und Stücken sind eine Zusammenfassung gesellschaftlicher unterschiedlicher Standpunkte. Ich würde, davon abgesehen, nie sagen, dass Frauen allgemein zu früh aufgeben. Wenn wir es in Hinsicht auf ein Berufsleben untersuchen, ist es für Frauen leider immer noch oft eine kräftemäßige und finanzielle Entscheidung, ob sie sich weiter sehr stark auf ihren Beruf konzentrieren können. Dass sich Frauen in unserer Zeit immer noch entscheiden müssen, ist das Drama.

Was würden Sie Ihrer Tochter empfehlen, wenn Sie eine hätten: Karriere als Künstlerin oder Karriere als Managerin?
Vermutlich würde ich meiner Tochter zu etwas raten, was weniger angreifbar ist als Kunst, bei der jeder mitreden zu können glaubt. Ein feines Studium der Astrophysik oder der Neurochirurgie, woraufhin die Tochter vermutlich extra etwas völlig anderes machen würde. Theoretisch denke ich, Frauen brauchen mehr Geld und Macht, um die Welt wirklich zu beeinflussen. Denn an etwas anderes glauben die meisten Menschen nicht mehr.

„Aber Banker allein hätten die Welt nicht so in den Irrsinn treiben können“


Apropos Macht und Geld: Banker werden in Ihrem Roman als die Kannibalen der Neuzeit bezeichnet. Wie meinen Sie das?
Die armen Banker sind aber wirklich zu Opfern geworden, dabei hat es sicher noch freundliche Schalterbeamte wie zu jeder anderen Zeit. Der neoliberale Wachstumswahn hat schon eine gewaltige Kraft entwickelt. Aber Banker allein hätten die Welt nicht so in den Irrsinn treiben können. Ohne Kunden, die nach ständig neuen Anlagekonzepten geschrien haben, es hätte Goldmann Sachs nicht ohne die Kunden gegeben, die die Produkte von Goldmann Sachs kaufen wollen. Die Anlagebanker, die CEOs in Rohstoffhandelsfirmen sind ein Ausdruck dessen, was wir alle wollen: Mehr!

Einer, der mehr will, ist Kasimir, der wie Toto im Heim aufgewachsen ist. Toto will singen und kreativ sein, Kasimir ist geldgierig. Warum wollen die Menschen alle entweder künstlerisch sein oder viel Geld verdienen? Und was wäre sinnvoll zu tun, wenn man Geld hätte?
Das mit dem wahnsinnig viel Geld verdienen ist ja ein neues Hobby. Früher wollten wir uns alle verwirklichen, was auch immer das meinte. Die unangenehme Erfahrung, die wir heute machen, ist, dass Geld eben doch glücklich macht, weil man ohne kaum noch elegant durch sein Leben kommen kann. Weil, wie ich es beschreibe, in den 80er und 90er Jahren das Ende der Zeit kam, in der man mit ein wenig Jobben dennoch vernünftig wohnen und sich ernähren konnte, weil es kaum mehr eine Mittelschicht gibt, sondern sich die Welt in Arm und Reich teilt.

Toto gehört eher zu den Armen: will nichts, nimmt sich selbst nicht ernst. Wirklich gut ergeht es Toto damit ja leider selten.
Doch es geht ihr erstaunlich gut, denn sie begreift sich nie als Opfer. Toto stirbt glücklich, auch wenn es für den Leser schwer vorstellbar scheint, dass jemand sein Leben nicht anfasst wie einen Stahlträger, den es zu biegen gilt. Ich glaube nur bedingt an die Möglichkeit, sein Schicksal völlig zu beeinflussen. Es kommt einem doch immer wieder eine Katastrophe dazwischen. Totos Geheimnis ist, dass sie nach dem Prinzip des körperlichen Wohlbefindens handelt. Sie schaut, dass ihr wohl ist.

„ Das Leben so zu verbringen, als wäre man in einen Fluss geworfen worden“, darüber denkt Toto ja auch nach. Doch wäre es nicht besser, etwas zu wollen und zu planen?
Das Leben lässt sich doch nicht planen, man kann sanfte Richtungen einschlagen, wie zum Beispiel Mikrobiologie zu studieren, aber planen? Wer weiß denn wirklich, wie er sich in zehn Jahren fühlen wird? Das Dasein verlangt doch eine ständige Reaktion und Anpassung von uns. Kann man planen, eine Liebe zu finden, kann man Krankheiten und Arbeitslosigkeit, Naturkatastrophen planen?

Toto liest und singt, wenn es mal wieder besonders schlimm ist – hilft Kunst, das Leben zu ertragen?
Sie hilft, eine Gegenwelt zum Kapitalismus herzustellen, in die wir flüchten können.

„Das Leben besteht für uns doch aus kleinen Minutenportionen“

Wie würde eine gute Gegenwelt aussehen, was macht ein glückliches Leben aus?
Vermutlich immer wieder zu hinterfragen, ob man zufrieden ist. Mit den Menschen, die einen umgeben, mit dem Beruf und dem Ort, an dem man lebt. Vermutlich ist ein Sich-Einrichten in nachgeahmten Lebensentwürfen ein Garant für Unzufriedenheit. Es gibt Menschen, die genau an dem Ort, wo sie sind, in dem Büro, mit dem Partner und den Kollegen zufrieden sind. Viele sind es aber nicht. Die Schwierigkeit ist dann, gegen bestehende Gewohnheiten vorzugehen.

Ein Leben lang wurde Toto schlecht behandelt. Es klingt aber traurig, wenn Sie schreiben, dass es bald vorbei ist, das „dumme kleine verschenkte Leben“, und dass „der Geruch nach Erde und Holunder, nach Wasser auf sonnenheißen Steinen“ bald verfliegt. Eine Feier des Lebens – trotz allem?
Aber natürlich. Wir sehen ja zum Glück die kurze Lebenskurve nicht ständig vor uns, sehen unsere Unwichtigkeit nicht, sonst würden wir ja durchdrehen. Das Leben besteht für uns doch aus kleinen Minutenportionen. Aus Menschen, die uns mögen oder die wir lieben, zu denen wir nett sind, aus Sonne und Wasser. Das macht die Angelegenheit so erträglich.

Ihr Ton ist apokalyptisch, aber auch heiter. Das Leben, wie Sie es schildern, ist sinnlos, und es wird nicht besser. Warum also überhaupt noch etwas tun – darüber schreiben zum Beispiel?
Nein, das Leben, wie ich es schildere, ist großartig, voll, lebenswert und verbesserbar! Es interessiert mich nicht, harmonische Geschichten, die auf blühenden Wiesen spielen, zu schreiben, denn wenn man auf einer blühenden Wiese sitzt, braucht man kein Buch. Ich schreibe, um Menschen, die gerne lesen, die Idee davon zu geben, dass sie nicht alleine sind. Und vielleicht auch immer noch ein wenig, um das Leben anderer glücklicher werden zu lassen. Zumindest für die Länge eines Buches.

Ihre erste Lesung findet in Stuttgart statt , gemeinsam mit Katja Riemann und Matthias Brandt und mit Bildern und Musik. Wie kamen Sie alle zusammen?
Ich wollte einmal etwas anderes versuchen, als dies: ein bis zwei Menschen lesen etwas vor. Der Versuch ist, dem Zuschauer die Welt des Buches plastisch vorzustellen. Mit Musik, die der von Toto gleichen könnte, mit Bildern, die sie sehen könnte. Frau Riemann und Herr Brandt sind Künstler, die ich toll finde, toll, dass sie mitmachen, toll dass Stuttgart und Hasko Weber uns machen lässt. Das Leben ist doch großartig!

Die Buchpremiere findet am 1. Oktober um 20 Uhr im Probenzentrum Nord des Staatstheaters Stuttgart auf der Großen Bühne statt. Es gibt noch Restkarten. Telefon: 0711/ 202090.