Sie wollte immer so sein wie die anderen: Dilek Güngör, geboren in Schwäbisch Gmünd, erzählt in ihren Büchern, wie es sich konkret anfühlt, nicht dazu zu gehören.
Wenn sie nach der langen Fahrt von Berlin nach Schwäbisch Gmünd zur Tür reinkommt, vergehen keine fünf Minuten, bis sich das vertraute Gefühl einstellt, wieder zuhause zu sein. Dieses Mal ist ihre neue Frisur der Anlass. „Warum hast du die Haare so kurz? Sieht echt blöd aus“, begrüßt sie die jüngere Schwester. Und ihre Mutter sagt: „Komm Dilek, da hinten sehe ich ein paar weiße Haare, die färbe ich dir gleich mal. Ich habe noch Farbe da.“ Dann weiß Dilek Güngör wieder, wie es sich daheim anfühlt, in Schwäbisch Gmünd, inmitten ihrer fürsorglichen Familie, die kein Blatt vor den Mund nimmt.
Sie lebt in Berlin, schon seit den neunziger Jahren. Aber der Nährboden ihrer literarischen Arbeit ist ihre Herkunft. Dilek Güngör, Jahrgang 1972, stammt aus einer türkischen Familie und wächst in einem Teilort von Schwäbisch Gmünd auf. Das Anders-Sein beschäftigt sie, seit sie erkannt hat, dass sich ihr Vesperbrot von dem anderer Kinder unterscheidet. Die Verunsicherung darüber und die Sehnsucht, dazu gehören zu wollen, haben sie bis heute nicht losgelassen. Von Buch zu Buch streift sie die Schutzschichten ab, die sich wohl alle Menschen zulegen, wenn sie sich ausgegrenzt fühlen – sei es aufgrund ihrer Herkunft oder anderen Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm.
Sie begann mit Kolumnen über die Großfamilie
Wie sie zur Schriftstellerei kam und wo sie heute steht, davon erzählt Dilek Güngör, die gerade auf Heimaturlaub ist, im plüschigen Café Margrit. Das Kaffeehaus ist bei Gmündern besonders beliebt für seine hausgemachte Schwarzwälder Kirschtorte. Als Kind habe sie hier immer eine Kugel Eis geholt, erzählt sie. Drin gesessen habe sie aber nie. Heute fühlt sie sich wohl auf den dunkelgrünen Polstersesseln.
Nach dem Abitur will sie Übersetzerin werden, dann Journalistin. Im Jahr 1997 sucht die „Berliner Zeitung“, die damals das Format einer „Washington Post Deutschland“ anstrebt, jemanden mit Türkischkenntnissen. Dilek Güngör schmeißt ihr gerade begonnenes Journalistikstudium hin, zieht nach Berlin und darf Kolumnen über ihre Großfamilie schreiben, die später auch in der Stuttgarter Zeitung erscheinen werden. Sie tragen Überschriften wie „Schwäbisches Anatolisch“ oder „Deutsche Lappen sind die besten“ und erzählen von den Eigenarten ihrer Verwandtschaft, stets empathisch und humorvoll. Auch ihr erster Roman „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“, der 2007 erscheint, ist eher eine leichte Erzählung mit Einblicken in die türkische Gesellschaft.
Erst zwölf Jahre danach findet sie Worte für die Fremdheitsgefühle und für solche, die daraus entstanden sind, wie Scham und Wut, Neid und Ohnmacht. Sie möchte „Wortungetüme wie Integration oder Rassismus auseinander brechen“, wie sie sagt, und deutlich machen, wie es sich konkret anfühlt, beschämt zu sein. Oder zwischen allen Stühlen.
Den furiosen Auftakt macht der Roman „Ich bin Özlem“, der 2019 erscheint. „Da kam erst mal alles auf den Tisch“, erzählt sie. Darin schreibt sie über die Angst ihrer Protagonistin Özlem, nach Zwiebeln zu riechen, und ihre Wut auf sich selbst, überhaupt Angst zu haben: „Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich meinen Ärmel an die Nase hebe, an meinem T-Shirt schnuppere, an meinen Haaren. Einfach so, mitten am Tag. Das T-Shirt riecht nicht unangenehm, auch unter den Achseln nicht, nur Deo und warme Haut. Aber was, wenn ich doch stinke und bloß nichts rieche?“
Sie beschreibt das Gestammel, die Gedankenkaskaden, wenn sie sich anderen vorstellt und dann nach ihrer Herkunft gefragt wird. „Ich denke, wenn ich den Leuten nicht von Anfang an sage, dass meine Eltern aus der Türkei kommen, dann können sie nicht verstehen, wovon ich rede, dann ergibt der ganze Rest keinen Sinn. Mein Name nicht, meine Biografie nicht, mein Beruf nicht.“ Die Nennung der Herkunft aber setzt sie auch unter Druck. „Es ärgert mich, über die Türkei, über den Islam nicht Bescheid zu wissen. Es dauerte lange, bis ich begriffen habe, dass ich nicht aufgrund meiner Herkunft alles über ein Land wissen muss, in dem ich nie gelebt habe, sowie über eine Religion, die mir nichts bedeutet.“
Kann nicht das Schweigen unsere Sprache sein?
Zwei weitere Bücher folgen: „Vater und ich“ erzählt von Ipek, einer jungen Frau, die auf Heimatbesuch ist und um die Nähe zum schweigsamen Vater ringt. Das Buch beginnt damit, wie er sie vom Bahnhof abholt. „Du hast Glück, du musst auf die Straße achten und Gas geben und andere wichtige Dinge tun. Ich muss aufpassen, an unserem Schweigen nicht zu ersticken.“ Anders als ihre Eltern legt Ipek, die sich als Kind für die Schreibfehler ihrer Eltern geschämt hat, Wert auf ihren Wortschatz. „Ich sammelte Wörter. Nie ihrer Schönheit wegen, nicht weil mir ihr Klang gefiel, ich habe sie aus reiner Gier gehortet, um gewappnet zu sein. Nur wogegen?“
Zwischendurch fragt sie sich, ob nicht „das Schweigen unsere Sprache sein kann?“ und verändert schließlich den Blick auf ihre Beziehung zum Vater. „Man muss sich nicht bei jedem Wort in die Augen sehen, man kann es so machen wie du und ich, aneinander vorbeigucken, in den Haselstrauch zum Beispiel, auf das begrünte Dach der Nachbarn und dabei einen Schluck Tee trinken.“ Der Roman wurde 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Zuletzt erschien „A wie Ada“, bei dem sie sich mal erlaubt habe, „all das zu machen, was ich mich bisher nicht getraut habe“. Es gibt keine Chronologie, keinen dramaturgischen Bogen, stattdessen Miniaturen, die alle für sich stehen könnten. Das Buch nimmt die Perspektive der Protagonistin Ada ein, mal als Kind, mal als Erwachsene. Sie sehnt sich nach Zugehörigkeit und schirmt sich zugleich ab, aus Selbstschutz.
Dilek Güngör tastet sich an Fragen heran, die jeden umtreiben: Wie viel Nähe kann ich zulassen, ohne verletzt zu werden? Wie viel schützende Distanz baue ich auf, ohne mich einsam zu fühlen? Eigentlich will Ada geliebt werden, nicht von den Eltern, den Schwestern oder Marco, der in sie verknallt ist. „Der ist ein Idiot.“ Unbedingt aber „von den anderen“. Etwa von den zwei Freundinnen. „Doch die sind nur einander Freundinnen, beste Freundinnen, mit Ada spielen sie manchmal und manchmal nicht.“
Ada baut Mauern auf, die es ihr noch als Erwachsene erschweren, sich zu öffnen, sogar wenn es ihre eigenen Kinder sind, die mit ihr kuscheln wollen. „Sie umklammern sie, hängen sich an sie, setzen sich auf ihren Schoß, legen sich im Bett quer über sie. Ada legt die Arme um die Kinderkörper, drückt sie an sich und zählt, vier, fünf und sechs . . .“ Weil Ada als Kind keine Hilfe von den Eltern erwarten kann, die ja die Ursache sind für ihr Anderssein, wächst sie in dem Gefühl auf, alles selbst regeln zu müssen. Hilfe anzunehmen oder Schwäche zu zeigen, muss sie als Erwachsene wieder erlernen.
Ständig sieht sie sich in der Gesellschaft im Nachteil. „Wer nicht fremd ist, spricht so, wie um ihn gesprochen wird, isst, und lacht, schläft, lernt und geht und macht alles so, wie es gemacht wird. Wer nicht fremd ist, weiß schon und kennt schon. Wie der Igel ist er immer schon da, wenn Ada kommt, und sie hat sich so beeilt.“ Als eine Freundin zu ihr sagt, sie habe sich in ihrer Familie immer fremd gefühlt, versteht Ada die Welt nicht mehr. „Wie kann sich ein Mädchen aus dem Ort mit einer deutschen Mutter und einem deutschen Vater fremd fühlen. Ada dachte, die Fremdheit gehört den Fremden.“
Dilek Güngörs nächstes Buch könnte von der Mutter handeln, die sie, mittlerweile selbst Mutter von zwei Kindern, mit neuen Augen sieht. „Sie war so jung, als sie hierher kam, hatte nichts, sprach kein Wort Deutsch. Aber da war immer so ein Grundvertrauen, dass die Dinge schon werden.“ Sie selbst sei immer gerannt, aus Angst, nicht gut genug zu sein. Die Auseinandersetzung mit der Mutter könnte auch den Blick auf ihre eigene Vergangenheit verschieben, ein Stück weit befrieden. „Vielleicht werde ich erkennen, dass ich auch mal still stehen darf.“
Nicht verschwunden, aber aufgeräumt
Über das Schreiben findet Dilek Güngör einen Umgang mit ihren Fremdheitsgefühlen. „Ich kann ihnen durch die Geschichten eine Form geben“, sagt sie. „Damit sind sie nicht verschwunden, aber gut aufgeräumt.“ Dafür sei sie auch bereit, sich „komplett auszuziehen“, wie sie sagt. „Ich fühle mich dadurch aber nicht entblößt.“ Im Gegenteil: Bei Lesungen entstehe eine Nähe zu ihren Zuhörern, die sich in der Gefühlswelt ihrer Protagonistinnen wiederfinden. „Ich glaube, diese Verbindung ist es, wonach ich suche.“
Als sie zuletzt in Schwäbisch Gmünd aus dem Buch „Vater und ich“ las, waren auch ihre Eltern im Publikum. Danach habe sie den Vater gefragt, wie es ihm gefallen habe. „Ich glaube, du hast etwas zu schnell gelesen.“ Mehr habe er ihr nicht sagen können. Dilek Güngör reicht das. „Ich bin mir sicher, er schätzt, was ich tue.“