Autistische Kinder üben, sich auf sich selbst und andere zu verlassen. Foto: Autismus Zentrum Schwaben

Autistische Kinder brauchen ein gutes Bildungsangebot, um ihre Intelligenz entfalten zu können, sagt der Autist Dietmar Zöller. Er selbst hat sich auf das Schreiben verlegt - anders zu kommunizieren, fällt ihm schwer.

Autistische Kinder brauchen ein gutes Bildungsangebot, um ihre Intelligenz entfalten zu können, sagt der Autist Dietmar Zöller. Er selbst hat sich auf das Schreiben verlegt - anders zu kommunizieren, fällt ihm schwer.

Stuttgart - Herr Zöller, Autismus hat viele Gesichter. Ihnen fällt es schwer, mit Menschen zu reden, Sie schreiben lieber und haben inzwischen zehn Bücher veröffentlicht. Auch unser Interview machen wir per E-Mail.
Lieber würde ich reden. Der Titel meines ersten Buchs „Wenn ich mit euch reden könnte“ von 1989 gibt immer noch treffend meine Situation wieder. Wie gern würde ich mich mit Menschen, die etwas zu sagen haben, unterhalten, so wie ich mich mit meiner Mutter unterhalte. Sie versteht jedes Wort und jeden Satz, der meinen gefühllosen Mund verlässt. Das Schreiben ist für mich wichtig geworden, seit ich die Möglichkeit habe, meine Gedanken und Gefühle schreibend zu strukturieren. „Schreiben ist eine gute Medizin.“ Als ich diesen Satz für mein neues Buch als Titel festlegte, stand ich unter dem Eindruck, dass mir kein Medikament mehr helfen kann. Alle Psychopharmaka, die mir geholfen hatten, einigermaßen mit meinem schweren Leben zurechtzukommen, haben ihre gute Wirkung aufgegeben und haben Nebenwirkungen produziert, die schlimmer sind als die autistische Symptomatik. Schreiben ist eine Notlösung, wenn man nicht sprechen kann, aber Schreiben ermöglicht Kommunikation. Es macht Selbstreflexion möglich und kann wie eine gute Medizin heilende Kräfte in Gang setzen.
Ist das Verständnis für Autisten gestiegen?
Ob die Menschen heute mehr Verständnis für die Autismusproblematik aufbringen als früher, weiß ich nicht. Es gibt Menschen, die finden mich interessant, aber scheuen sich, mir näherzukommen. Die Menschen mit Autismus, die ich kenne, erleben Einsamkeit und Isolation in hohem Maße. Ich persönlich laste das aber nicht meinen Mitmenschen an. Ich lernte viele Menschen kennen, die mir zugetan waren, die sich zurückzogen, weil ich nicht angemessen reagieren konnte.
Viele verbinden mit Autismus mangelnde In- telligenz. Wie sind Vorurteile zu überwinden?
Dass man mich im Vorschulalter für geistig behindert hielt, kann man in alten ärztlichen Gutachten nachlesen. Meine Mutter hat das nicht geglaubt und hat recht behalten. Sie hat mich angeblich überfordert, soll mich unter Druck gesetzt haben. Mein Glück. Ich durfte lernen, was meine älteren Brüder lernten, obwohl ich von einer Regelschule nur träumen konnte. Ich habe großes Mitleid mit den Autisten, die kein anspruchsvolles Bildungsangebot bekommen oder bekommen haben. Wie soll jemand seine Intelligenz entfalten, wenn es zu wenig Futter gibt.
Je früher die Störung erkannt wird, desto besser können Betroffene gefördert werden. Was hilft, was verschlimmert ihre Situation?
Man muss den Kindern helfen, so früh wie möglich die chaotischen Sinneserfahrungen zu ordnen. Auch Kinder, die nicht sprechen, lernen denken, wenn ihr Erleben sprachlich begleitet wird.
In der Debatte um gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Handicaps gibt es viele Ängste. Wie kann Inklusion gelingen?
Nach meinen eigenen Schulerfahrungen kann ich mir Inklusion nur so vorstellen, dass die autistischen Schüler/-innen als Einzelpersönlichkeiten mit störendem Verhalten wahrgenommen und toleriert werden. Niemand nimmt sich vor zu stören, es passiert, und die Betroffenen sind unglücklich, wenn es passiert ist. In großen Klassen kann Inklusion auch beim besten Lehrer nicht gelingen.
Welche Qualifizierung brauchen Erzieher und Lehrer?
Erzieher/-innen und Lehrer/-innen sollen über so etwas wie Herzensbildung verfügen. Das aber hat man, oder man hat es nicht. Wer die Menschen nicht mag, nichts Liebenswertes an ihnen entdecken kann, soll sich einer solchen Herausforderung nicht stellen.
Viele Autisten fassen schwer Fuß in der Berufswelt. Woran scheitert das?
Da gibt es zwei mögliche Gründe: Die Menschen sind im Umgang mit Arbeitskollegen ungeschickt, können sich oft den Chefs gegenüber nicht gut verkaufen. Menschen wie ich haben auf dem Arbeitsmarkt keine Chance, weil die Handlungsstörungen zu groß sind. Wer jede Tätigkeit bewusst ausführen muss, weil er keine Routinen entwickelt hat, steht einen Arbeitstag nicht durch.
Wie wirkte sich die Ankündigung des Software-Herstellers SAP aus, Betroffene einzustellen, weil sie sich auf bestimmte Aufgaben besonders gut konzentrieren können?
Die letzte Frage ist für mich persönlich ohne Belang. Meine Reaktion: Wie schön, dass wenigstens einigen geholfen werden kann.