Wlada, Wita, Les’, Swjatoslaw und Zlata sind aus Kiew geflohen und in Rottweil gelandet. Sie sind von der Hilfsbereitschaft überwältigt, haben aber auch im Alltag noch viele Hürden zu bewältigen. Foto: Zelenjuk

Der 24. Februar hat die Welt verändert. Für Familie Plets’kyj hat der Angriff Russlands auf die Ukraine eine schreckliche Zäsur bedeutet. Wita und die vier Kinder haben das Land verlassen, der Familienvater Sergej ist geblieben. Doch sie alle kämpfen, jeder und jede auf eigene Art.

Rottweil - Der Tisch ist gedeckt, ein Kuchen steht in der Mitte, der Wasserkocher auf dem Herd. Die vier Kinder sind sichtlich aufgeregt, vor allem die Jungs – der elfjährige Swjatoslaw und der neunjährige Les’ – halten es kaum ruhig auf ihren Stühlen aus. Wie ein Fels in der Brandung wirkt dagegen die Mutter Wita. Es scheint ihre Taktik zu sein – um Angst, Wut und Verzweiflung im Leben der Familie nicht überhand nehmen zu lassen.

Seit genau zwei Wochen wohnen die fünf nun in Rottweil – erst bei den Bekannten in der Rottweiler Innenstadt, nun in einer spartanisch, aber mit viel Liebe und allem Nötigen eingerichteten Einliegerwohnung bei einer Gastfamilie. So langsam kommen sie an, auch wenn es noch viele Hürden zu bewältigen gibt. Die größte davon ist die Sprachbarriere. Deutsch kann keiner von ihnen, ein bisschen Englisch nur Wlada (16) und Zlata (13). Wie klappt denn die Kommunikation mit der Gastfamilie? Mit Händen und Füßen oder durch Übersetzungsapps, verrät Wita. Sie selbst spricht neben Ukrainisch auch ziemlich gut Russisch, die Kinder nur Ukrainisch.

Es gab keine Zeit, um lange nachzudenken

Ihre Welt war vor Kriegsbeginn eine glückliche. Wita war Lehrerin an einer Waldorfschule in Kiew und unterrichtete in der dritten Klasse, auch alle Kinder der Familie besuchten diese Schule. Der Familienvater Sergej arbeitete als Programmierer. Erst vor einem Monat sind sie in Kiew eine neue, großzügige Mietwohnung umgezogen.

Und dann kam der 24. Februar mit seinen Nachrichten, die auf einmal alles veränderten. "Es war mein Mann, der darauf gedrängt hat, dass wir Kiew sofort verlassen", schildert Wita. Sergej bestand schon eine Woche früher darauf, Rucksäcke, Schlafsäcke und wichtige Dokumente zu packen. Wita erzählt, sie hat die ganze Zeit gehofft, dass es reine Vorsichtsmaßnahme bleibt.

Es kam anders, und an diesem Morgen gab es keine Zeit, um lange nachzudenken. "Wir wussten nicht, wohin wir uns begeben müssen. Wir haben beschlossen, einfach in die westliche Richtung zu fahren", erinnert sich Wita.

"Alles in mir hat geschrien"

Den Kindern haben sie gesagt, dass statt der Schule, die an diesem Tag nicht aufmachte, ein Ausflug ansteht. "Ich habe versucht, ruhig zu wirken. Im Inneren hatte ich aber so eine schreckliche Angst. Alles in mir hat geschrien", sagt Wita. Die beiden Töchter haben sofort verstanden, um was für einen Ausflug es geht. Die Jungs freuten sich auf ein Abenteuer.

"Ich habe nur noch Ladegeräte für Handys und mein Make-Up-Etui in den Rucksack eingesteckt", sagt Wita. Mit einem Kleinbus ging es raus aus Kiew: Statt 20 Minuten dauerte die Fahrt zur nächsten Kleinstadt volle fünf Stunden. "Auch damals habe ich noch gedacht, vielleicht sollen wir umkehren. Ich will nach Kiew zurück. Ich habe doch meine Klasse, meine Kollegen, meine Verantwortung", sagt Wita. Es war ihr Mann Sergej, der, wenn man rückblickend betrachtet, die Lage richtig einschätzte.

Also ging es für die sechs weiter – mit dem Zug und per Anhalter. Nach einer Nacht im Hotel, in der Wita kaum ein Auge zudrücken konnte, beschlossen sie, an die Grenze zu fahren. Zu diesem Zeitpunkt stand auch schon fest, dass sie nach Rottweil kommen dürfen: Witas alte Freundin aus der Ukraine, die vor sieben Jahren nach Rottweil ausgewandert ist, bot Hilfe an. Ihr Ehemann und dessen Kollege erklärten sich bereit, die Familie an der Grenze abzuholen und nach Rottweil zu bringen.

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Abschied nehmen an der Grenze

Für den Grenzübergang haben die Plets’kys 18 Stunden gebraucht. Der Andrang war enorm. Hier mussten die Kinder auch von ihrem Vater und Wita von ihrem Mann Abschied nehmen. Obwohl Sergej als Vater von vier Kindern das Land verlassen durfte, kam das für ihn nie infrage. "Ich bleibe bei den Jungs", war für ihn klar. "Ich habe es immer gewusst, ich habe seine Entscheidung akzeptiert", sagt Wita. Auch wenn es immer noch weh tut.

Der letzte Teil der Reise führte von der Grenze direkt nach Rottweil. "Wir sind überwältigt von der Hilfsbereitschaft, die wir hier erfahren. Wir haben Räume zum Wohnen und Kleidung bekommen. Wir sind sehr dankbar", sagt Wita. Besonders die Waldorf-Gemeinde unterstützt die Familie stark.

Die Kinder gehen seit einigen Tagen in die Waldorfschule – auch wenn die Sprache noch eine große Herausforderung darstellt. Wita kocht, backt viel und hat angefangen, ein bisschen im Garten zu arbeiten. "Ich will mich auch einbringen, das ist mir wichtig. Auch die Sprache will ich lernen."

Kleine Alltagsfreuden

Die Zukunft ist für die Plets’kys ungewiss. "Im Moment sind wir hier. Was kommt, weiß ich nicht", sagt Wita. Aus ihrer Waldorf-Klasse in Kiew mit 29 Kindern haben inzwischen 27 Familien die Stadt verlassen. "Die Väter sind geblieben, die Mütter mit Kindern sind geflohen."

Mit Sergej halten sie über Handy-Messenger Kontakt. Besonders viel erzählt er nicht. Er freut sich aber, über die Erfolge der Kinder zu lesen. Über die kleinen Alltagsfreuden seiner Familie. Über den Narrensprung, den sie am nächsten Tag nach der Ankunft aus dem Fenster in der Wohnung von Witas Freundin miterleben durften. Über die geschmückten Schaufenster, die wunderschönen Häuser ("wie ein Drehort für einen Film"), die kleinen Zwerge in den Vorgärten. Auch das kann vielleicht ein bisschen Hoffnung spenden.