Die Friedenskirche am Friedensplatz 1 ist eine Station beim Audio-Walk „Spuren-Suche“. Foto: Leif Piechowski

Der Audio-Walk „Spuren-Suche“ der Flanerie ist spannend wie eine Schatzsuche – und bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die eigene Stadt ganz neu wahrzunehmen.

Stuttgart - Es ist ein einziges Gewusel. Im Neonlicht hasten Menschen durch die unterirdischen Gänge der Klett-Passage. Plötzlich klingt einem eine Stimme ganz dicht am Ohr: „Du bist genau dort, wo auch ich bin.“ In ihr schwingt ein leichter Akzent mit, und dennoch klingt sie seltsam vertraut. Es liegt Güte in dieser Stimme und Weisheit – die Weisheit eines Mannes, der schon viel gesehen hat. Und der nun nichts mehr sieht.

Denn der Mann, der zu uns spricht, ist blind. In der Klett-Passage irrt er umher und fühlt sich „wie auf einem Boot, mit dem er ein Archipel mit scharfen Küsten durchschippern muss, ohne zu wissen, wo ein sicherer Hafen ist“. Man möchte ihm helfen, aber man kann ihm nur zuhören. Denn der Mann ist nur als Stimme im Kopf vorhanden.

Diese kommt von einem kleinen tragbaren Gerät, auf dem eine Geschichte abgespielt werden kann: Die Geschichte eines Mannes aus Belgrad in Serbien, der als Heranwachsender einige Zeit in Stuttgart lebte und als alter, erblindeter Mann zurück an die Orte kommt, die ihm teuer sind.

Es ist eine fiktive Geschichte, erdacht hat sie sich Simon Maric, ein junger Mann aus Belgrad. Maric ist Schriftsteller und Mitglied der Goethe-Guerillas des Belgrader Goethe-Instituts, und er kam im vergangenen Herbst auf Anfrage der Künstlergruppe Flanerie nach Stuttgart, die bei diesem Projekt mit dem serbischen Akademikernetzwerk Nikola Tesla e. V. zusammenwirkt. Sieben Wochen lang flanierte Maric durch die Stadt. Um die Orte, die ihn besonders berührten, interessierten oder auffielen, entspann er die Geschichte des Mannes, der die lauschenden Flaneure auf seine Reise an Orte aus seiner Kindheit mitnimmt. Sie begleiten ihn auf einen „gemeinsamen Spaziergang“. Während sie seiner Spur folgen, haben sie die Chance, selbst eine Spur zu hinterlassen – „so entsteht eine Gleichzeitigkeit aus Erinnerung und Gegenwart“, wie Tina Saum von der Flanerie erklärt.

Weckt auf spielerische Art und Weise kindlichen Entdeckungsdrang

„Spuren-Suche“ ist eine Art Hörspiel, das alle Sinne einbezieht. Es ist also Seh-, Riech- und Fühlspiel – auch, weil es auf spielerische Art und Weise einen kindlichen Entdeckungsdrang weckt. Und ist gleichzeitig Verwirrspiel: Schlagen die Kirchenglocken der Friedenskirche nahe des Neckartors wirklich – oder ist das Teil des Hörspiels, das von Stjepan Markovic an den Originalplätzen eingesprochen wurde? „Die Friedenskirche war der erste Ort in Stuttgart, der mich fasziniert hat“, sagt die Stimme des Mannes. „Das war nicht das Alte Schloss, das war nicht die Oper. Die kamen mir immer vor wie Diamanten im Schaufenster, die dir sagen: Ich werde dir nie gehören.“ Dagegen ist die Friedenskirche geradezu geerdet, ja irdisch.

Aber es ist immerhin ein Gotteshaus! „Und was macht ein Hahn auf einer Kirche?“, fragt der Mann. Der Blick des lauschenden Flaneurs geht unweigerlich nach oben zum Turm. Und richtig, dort sitzt er, der Hahn. Unterhalb der Spitze sind noch eine Uhr und eine Christusfigur angebracht. „Vielleicht will uns das sagen, dass die Natur über allem steht und alles übersteht, während Religionen und Zeiten vergehen“, sinniert der Mann. Es sind solch philosophischen Gedanken, die den Audio-Walk auch zu einem poetischen Lustwandeln machen.

Den Duft der Crêpes am Crêpes-Stand schnuppern

Insgesamt begleiten die lauschenden Flaneure den Mann zu sieben Orten – in welcher Reihenfolge sie diese aufsuchen, bleibt ihnen überlassen. Sie besuchen mit ihm den Friedhof an der Petruskirche in Gablenberg, der dem Mann mehr wie ein Garten als eine Totenstätte anmutet. Sie stehen in der Kopfbahnsteighalle im Hauptbahnhof und verfolgen mit ihm eine Frau mit Stöckelschuhen. Sie begeben sich mit ihm zu den Gleisen und sehen, wie er als Kind mit seinen Eltern ankommt. Sie schnuppern mit ihm den Duft der Crêpes am Crêpes-Stand und hören das Wasser des Pallas-Athene-Brunnens auf der Karlshöhe rauschen. Und die lauschenden Flaneure schreiben gleichzeitig ihre eigenen Gedanken auf die sieben Fotos von den Orten, die sie mit auf die Spurensuche bekommen haben. Damit sie nie vergessen, was der Mann ihnen zum Abschied ins Ohr flüstert: „Du warst genau da, wo auch ich einst war.“

Auf Spuren-Suche begeben kann man sich am 12. sowie 25. und 26. Mai sowie am 1. und 2., 8. und 9. sowie 29. und 30. Juni. Die MP3-Player können je zwischen 13 und 19 Uhr beim Serbischen Akademikernetzwerk Nikola Tesla, Kriegsbergstraße 28, ausgeliehen werden. Anmeldung per Mail an dieflanerie@gmail.com oder per Telefon unter 01 76 / 49 04 84 22. Preis nach eigenem Ermessen. Weitere Infos unter www.flanerie.wordpress.com