Berlin - Unterhalb der Bürgersteige und U-Bahn-Stationen existiert in Berlin eine ganz eigene Welt: Atombunker aus dem Kalten Krieg. Wer will, kann hinabsteigen und das Grausen vor einer Endzeit, die glücklicherweise immer Fiktion geblieben ist, erleben.

Die Menschen leben in drei Schichten. Die erste Schicht schläft, weil nicht alle Liegepritschen zugleich ausgeklappt werden können. Die zweite sitzt, die dritte ist in Bewegung. Egal was die Uhr anzeigt: Hier zählt keine Zeit. Obgleich sie so sehr drängt. Das blaue Neonlicht macht einen wahnsinnig; es erlischt nie. Es soll Keime, Bakterien und Krankheitsprozesse verlangsamen. Verwesung auch.

Die schwarzen Leichensäcke liegen etwas abseits; hier kommt niemand heraus. Tot oder lebendig. Die schweren Eisentüren sind ins Schloss gefallen, seit der automatische Menschenzähler in den Zargen bei 3592 Alarm geschlagen hat und die Tür mit einem wortwörtlich überstürzenden, gnadenlosen Krachen in die Angel fiel. Der 3593ste, 3594ste, 3595ste Mensch wurde noch verletzt dabei, so brachial schloss die zentnerschwere Pforte. Die anderen, die so drängend die enge Treppe in Richtung Pforte hinuntergestürzt waren, schrien auch. Plötzlich waren sie getrennt: Paare, Geschwister, Kinder, Eltern.

Es war doch ihre letzte Rettung, hier hineinzukommen - in den Atomschutzbunker von Berlin, am zerstörten Kurfürstendamm, im zweiten Untergeschoss jenseits der Tiefgarage. Das Recht des Stärkeren entschied, wer sich hier verkriechen kann. Mehr als 3592 Menschen fasst der Bunker nicht. Und die, die es geschafft haben, für die beginnt ein zweiwöchiges Leben in antiseptischem Neonblau und Drei-Schichten-System. Wenn sie überhaupt überleben nach der verheerenden Strahlendosis, die sie durch die Explosion der Atombombe bereits in sich tragen. Ein Sterben auf Raten. Menschen, die um Leichensäcke kreisen. 20 Säcke pro 1000 Menschen. 72 für 3592.

Vorräte von Weizen, Roggen und Hafer gehören zur sogenannten Bundesreserve Getreide, um im Krisenfall ausreichend Mehl und Brot anbieten zu können. Da Getreide länger als Mehl zu lagern ist, gibt es wahre Kornkammerdepots, um bis zu zehn Jahre über die Runden zu kommen. Sie sind dort eingerichtet, wo noch Mühlen stehen, um Mehl zu mahlen. Die Auflagen zur Lagerung sind deutlich schärfer als im Einzelhandel: Das Getreide muss weniger feucht sein und darf nicht annähernd so viel Bruchkorn aufweisen. Spezielle Technik sorgt in den Hallen für die richtige Temperatur und Luftbefeuchtung. Um Ungeziefer zu vermeiden, wird das Korn geharkt. Regelmäßig inspizieren Prüfer der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung die Lager.

Die Aufpasser kennen kein Pardon

Die Luft ist stickig; Stromaggregate erzeugen einen künstlichen Überdruck, um zu verhindern, dass die Radioaktivität aus der Welt oben eindringt. Wie lange die eingepferchten Männer, Frauen, Kinder wohl an diese kleine Überlebenschance glauben? Alles scheint besser, als draußen durch die Straßen zu irren, wo sich der atomare Niederschlag auf alles legt, durch alle Beton- und Menschenporen hindurch.

Es hängt kein einziger Spiegel im Atomschutzbunker. Nicht, weil die Menschen einander nicht betrachteten, wie ihnen langsam die Haare ausfallen und sich überall auf der Haut diese Ekzeme bilden. Das sieht jeder beim anderen und weiß es von sich auch. Die Schmerzen am eigenen Leib nehmen schließlich zu. Aber bei wem ausheulen? Wer will das schon hören? Die Ärzte haben kaum mehr Verbandsmaterial; die Medikamente sind abgezählt. Die Aufpasser kennen kein Pardon. Spiegel gibt es keine, damit niemand Glas herausbricht und sich die Pulsadern aufschneidet.

Genau zwei Wochen soll das labile Leben hier aufrechterhalten werden. Zwei Wochen, in denen der Fallout genannte atomare Staub auf die Stadt sinkt. Danach müssen die Menschen den Bunker sofort verlassen und sich irgendwie durchschlagen. Das verlangen die internationalen Zivilschutzregeln. Länger auch reicht der Sauerstoff nicht, und schon gar nicht die Wasser- und Stromversorgung aus den Notaggregaten. Die Luftfilter können den Atomstaub ebenfalls nur 14 Tage abwehren - ein wenig.

Einem direkten Bombentreffer hält der Bunker ohnehin nicht stand. Auch der Lebensmittel- und Wasservorrat reicht nur für zwei Wochen. Goldfarben leuchten Konserven im Regal der Küchenzelle. Je drei 500- Gramm-Dosen Fleisch stapeln sich reihenweise auf jedem Zwischenboden des Regals. Daneben Toilettenpapier und Wasserflaschen. Brot ist auch noch da, aber in deutlich geringeren Mengen, weil es nicht haltbar ist. "Die Kapazitäten reichen längst nicht aus, um alle Menschen hier zu versorgen", sagt eine junge Frau. Nimmt der Horror kein Ende?

Ein Atomkrieg - das schlimmste anzunehmende Szenario

Doch. Die glockenklare Stimme der jungen Frau wirkt wie ein Weckruf. Sie trägt ein rotes T-Shirt, auf dessen Rücken der Schriftzug des Museums "Story of Berlin" (Die Geschichte Berlins) steht. Das Lächeln der Tourleiterin erst holt die Besucher des Atomschutzbunkers in die Gegenwart zurück. Aus einem Albtraum, auf den sich die Stadt und die ganze Republik bis heute vorbereitet.

Bis heute ist der Atomkrieg das schlimmste anzunehmende Szenario. Allein im Stadtgebiet Berlin gibt es vier Atomschutzbunker wie jenen hier, der völlig unscheinbar unterhalb der Flaniermeile des Kurfürstendamms gebaut wurde. Ein halbes Jahr würde es dauern, den Bunker tatsächlich in Betrieb nehmen zu können - für den Schutz vor einem Atomkrieg.

Doch der Bund ist verpflichtet, allen zu helfen. Er hat eine Notreserve eingelagert, damit im Katastrophenfall, bei Störungen der Strom- und Energieversorgung oder nach einem Terrorangriff die öffentliche Versorgung aufrechterhalten werden kann. Bis heute sind deutschlandweit mehr als 100 riesige Lagerhallen gefüllt, um das zum Überleben Notwendige zu speichern: Die Bundesreserve und die Zivile Notfallreserve sollen vor allem in Ballungsräumen die Bevölkerung mindestens mit einer Mahlzeit täglich versorgen können.

Vorräte von Weizen, Roggen und Hafer gehören zur sogenannten Bundesreserve Getreide, um im Krisenfall ausreichend Mehl und Brot anbieten zu können. Da Getreide länger als Mehl zu lagern ist, gibt es wahre Kornkammerdepots, um bis zu zehn Jahre über die Runden zu kommen. Sie sind dort eingerichtet, wo noch Mühlen stehen, um Mehl zu mahlen. Die Auflagen zur Lagerung sind deutlich schärfer als im Einzelhandel: Das Getreide muss weniger feucht sein und darf nicht annähernd so viel Bruchkorn aufweisen. Spezielle Technik sorgt in den Hallen für die richtige Temperatur und Luftbefeuchtung. Um Ungeziefer zu vermeiden, wird das Korn geharkt. Regelmäßig inspizieren Prüfer der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung die Lager.

Deutschland hatte Glück

Nach zehn Jahren, noch immer deutlich vor dem Ende der Haltbarkeit, wird das Korn verkauft und gegen frisches eingetauscht. Mit Reis, Trockenerbsen, Trockenlinsen, Vollmilchpulver und Kondensmilch dagegen versucht die Zivile Notfallreserve den Bedarf an Calcium, Eiweiß und Kohlehydraten abzudecken.

16 Millionen Euro Gesamtkosten sind im Bundeshaushalt für Bundesreserve und Zivile Notfallversorgung veranschlagt. Die Katastrophenszenarien regen seit den 50er Jahren die Fantasie der Rettungsplaner an. Gebraucht wurden die Reserven noch nie - Deutschland hatte Glück. Die Logistik ist bis ins Detail geplant. Im Katastrophenfall melden die Bundesländer, welche Regionen in welchem Umfang Hilfe brauchen. Versorgt werden sie durch Bundeswehr und Technisches Hilfswerk mit den Vorräten aus den Lagern ihrer Umgebung. Die Bürger schließlich müssen sich die Lebensmitteln abholen; es ist Sache der Kommunen, Versorgungsstellen einzurichten. Doch jeder Katastrophenhelfer weiß, dass es nicht ausreichen wird, sich auf den Staat zu verlassen. Die Experten raten jedem dringend, daheim fünf Kilogramm Mehl und zehn Liter Trinkwasser zu deponieren - für den Fall der Fälle.

Doch was braucht ein Mensch, um 14 Tage zu Hause zu überleben? 2200 Kilokalorien am Tag. Der Vorratskalkulator des zuständigen Bundesverbraucherministeriums rechnet vor, wie der Gesamtenergiebedarf für zwei Wochen abzudecken ist: mit 4,6 Kilogramm Brot, Nudeln, Reis und Kartoffeln, mit 5,6 Kilogramm konserviertem Gemüse und Hülsenfrüchten, 3,5 Kilogramm Nüssen, Trocken- und Frischobst, 24 Litern Getränken, 3,7 Kilo Milch und Milchprodukten, 1,7 Kilogramm Fisch, Fleisch und Eiern und einem halben Kilo Fett.

Drunten im Atomschutzbunker am Berliner Kurfürstendamm stellt die junge Tourleiterin mit dem roten T-Shirt das antiseptische Neonblau ab. Es ist Abend geworden. In der kleinen Bunkerküche, in der Platz sein soll für die Vorräte für 3592 strahlenverseuchte Menschen, schimmern die goldfarbenen Fleischkonserven nur noch matt. Die schwere Stahltür mit dem Menschenzählerwerk gibt den Weg nach draußen frei.