Zwischen Tamm und Asperg regt sich Widerstand gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Foto: Kevin Lermer/7aktuell.de

Baden-Württemberg muss mehr Menschen aufnehmen und sucht händeringend Platz dafür. Die Justizministerin kündigt an, auch gegen den Willen der Kommunen entscheiden zu können.

Manchmal kommt es besser, als man denkt. Die Stadt Sindelfingen, im Speckgürtel von Stuttgart gelegen und mit dem größten Werk versehen, das Daimler zu bieten hat, freut sich 2023 über ein sattes Plus an Gewerbesteuereinnahmen. Damit sei nicht zu rechnen gewesen, heißt es aus dem Rathaus. Meistens geht es mit Vorhersagen und Wirklichkeit freilich anders rum, da müssen dann die Einnahmen nach unten, die Kosten aber nach oben korrigiert werden. Unvorhersehbar, was die Zukunft so bringt.

 

Prognosen sind wichtig – und schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen. Das Bonmot wird Winston Churchill zugeschrieben, ob zurecht ist nicht ganz klar. Klar ist aber, dass es ohne Vorhersagen nicht geht. Wie viel Lehrer braucht man in zehn Jahren? Wie viel Streusalz im nächsten Winter? Wie viel Kapazitäten für Flüchtlinge im kommenden Jahr? Kaum eine Frage treibt die Politiker in Bund, Land und Kommunen derzeit so sehr um wie die der Zuwanderung. Schließlich zieht die Zahl der ankommenden Menschen eine Reihe von Folgefragen nach sich. Wo und wie schafft man Wohnraum, wo gehen die Kinder zur Schule, wie werden die Menschen versorgt?

Bundesamt erstellt keine konkreten Prognosen

Allerdings: Niemand weiß das genau. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg sitzen die Spezialisten für diese Fragen – und sagen nichts. Man entwickele verschiedene Szenarien, aber keine konkrete Prognose, sagt ein Sprecher. Und die Szenarien seien auch nicht für die Öffentlichkeit gedacht, sondern für das Innenministerium, welches die Erkenntnisse dann weiter gebe. Immerhin: Bei den Szenarien, die im Vorfeld des Jahres 2023 entwickelt wurden, sei die dann gekommene Realität mit dabei gewesen. Und auf die Frage, ob auch die Möglichkeit durchgespielt werde, dass die Zahl der Flüchtlinge 2024 weiter steige, heißt es lapidar: alles was denkbar ist, sei auch Gegenstand der Überlegungen.

Diese Ungenauigkeit macht das Leben für Länder und Kommunen nicht einfacher. In Baden-Württemberg geht man bei den Berechnungen von den mittelfristigen Prognosen des Bundes aus. Die sagen voraus, dass jedes Jahr 210 000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen, entsprechend dem geltenden Verteilungsschlüssel müsste Baden-Württemberg 27 300 davon aufnehmen. Im Jahr 2023 hat die Realität die mittelfristige Prognose allerdings rasant überholt. Anfang Dezember waren bundesweit schon mehr als 300 000 Erstanträge auf Asyl gestellt worden, eine viertel Millionen Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine nach Deutschland geflohen waren, kamen noch dazu. In Baden-Württemberg waren mehr als 34 254 Flüchtlinge registriert, noch bevor der Dezember vorbei war.

In vielen Bereichen muss nachjustiert werden

„Eine belastbare Prognose der Zugangszahlen für 2024 ist nicht möglich“, sagt Justizministerin Marion Gentges (CDU) unserer Zeitung. Aktuell gebe es allerdings keine Anzeichen dafür, das mit einer „nachhaltigen Trendwende“ zu rechnen sei. Selbst wenn sich die eher konservativen Schätzungen des Bundes im mittelfristigen Bereich bewahrheiten würden, müsste im Südwesten in vielen Bereichen nachjustiert werden.

Laut Justizministerium beträgt die Regelkapazität der Erstaufnahmeeinrichtungen im Land derzeit 6300 Plätze. Wenn man nicht dauerhaft auf Sport- oder Messehallen zurückgreifen will, seien rund 9000 weitere Plätze nötig, sagt Gentges. Dabei werde zugrunde gelegt, dass die Menschen im Schnitt fünf Monate in den Aufnahmeeinrichtungen bleiben. Nicht nur in Waldkirch und Bruchsal, in Ludwigsburg und Pforzheim schaut das Ministerium daher intensiv nach möglichen Standorten – meistens nicht gerade zum Vergnügen der entsprechenden Kommunen. Die Justizministerin hatte daher unlängst erklärt, dass auch Standortentscheidungen ohne das Einvernehmen der Kommunen getroffen werden könnten.

Keine gute Nachrichten für die Kommunen

Nicht besser wird die Situation dadurch, dass sich der Bund im kommenden Jahr nur noch mit 1,25 Milliarden Euro an den Kosten beteiligen will, die Kommunen durch die Flüchtlinge aufbringen müssen. In diesem Jahr kamen aus Berlin noch 3,75 Milliarden. Die Ankündigung der Kürzung kam noch bevor das Bundesverfassungsgericht die Haushaltspolitik der Ampel-Koalition verurteilte – aus Sicht der Kommunen ist das keine gute Nachricht. Doch mit den Zahlen ist das so eine Sache. Der mittelfristige Finanzplan des Bundes sieht in diesem Jahr 27,6 Milliarden Euro an Kosten für Flüchtlinge vor, in den nächsten drei Jahren soll die Summe immer kleiner werden. Faktisch reicht das Geld aber schon 2023 nicht aus, ob die Zahlen der Flüchtlinge im kommenden Jahr wirklich so sinkt, dass die Finanzplanung wieder stimmt, steht in den Sternen.