Nicht nur ältere Menschen sind beim Thema Armut betroffen. Foto: © Alexander Raths – stock.adobe.com

Es sind erschreckende Zahlen, die der Paritätische Wohlfahrtsverband jetzt für den Nordschwarzwald veröffentlicht hat: Die Armutsgefährdungsquote lag 2019 bei 16,6 Prozent. Demnach muss jede sechste Person im Nordschwarzwald als arm eingestuft werden.

Nordschwarzwald - In absoluten Zahlen wird die pure Dimension der Armut in den Kreisen Calw, Freudenstadt und Pforzheim/Enzkreis noch deutlicher: Bei insgesamt 602 957 Einwohnern (zum Jahresende 2019) mussten exakt 100 091 Personen mit nur 60 Prozent oder weniger des durchschnittlichen Einkommens auskommen. Per Definition gilt man damit als arm. Singles verfügen dabei über 1148 Euro im Monat (oder weniger), Paare über maximal 1721 Euro und Alleinerziehende mit einem Kind über 1492 Euro.

Richtig schockierend dabei: Die Region Nordschwarzwald verzeichnete im Zeitraum der Jahre 2006 bis 2019 die sechstgrößte Zuwachsrate überhaupt in der Armutsquote in Deutschland – im Vergleich zu allen anderen Regionen bundesweit. Noch schlechter sieht die Entwicklung der Armuts-Situation nur in Ballungsräumen wie Siegen, Düsseldorf oder Duisburg/Essen aus. Dabei gelte, so Ute Hötzer, Regionalverbundsprecherin des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Nordschwarzwald während einer Online-Pressekonferenz zur Präsentation des ersten Armutsberichts für die Region, dass es zudem noch eine darüber hinausgehende, "verdeckte Armut" gebe, die noch einmal "viel, viel höher sei" als die offiziellen Zahlen von der Statistik-Ämtern.

Größtes, drängendstes – und im Stadtbild auch der Kommunen im Nordschwarzwald mittlerweile "sichtbarstes" – Problem der zunehmend grassierenden Armut, sei die zunehmende Obdachlosigkeit. Die sei "noch nie so hoch" gewesen in der Region wie aktuell. Grundsätzlich seien die Kommunen "verpflichtet", Betroffene – so der Behörden-Jargon – "unterzubringen". Das gelinge auch weitgehend – noch. Was nicht funktioniert: Diese Menschen "auch in echtem Wohnraum", also in eigenen Wohnungen oder zumindest Apartments, einzuquartieren.

Unterbringung: Aufgabe der Kommunen

"Eigentlich müssten die Kommunen sehr viel mehr Belegungsrechte für vorhandene Wohnungen erwerben", so Hötzer, um hier ihren Verpflichtungen auch wirklich nachzukommen. Aber beispielsweise sei in Pforzheim die Einführung einer "Sozialquote" bei genehmigten Neubauten von 20 Prozent letztlich am dortigen Gemeinderat gescheitert – und dann "in den Schubladen verschwunden".

Das wirklich bedrohliche Szenario dahinter: Mit dem Ukraine-Krieg und den dadurch ausgelösten Preissteigerungen und Inflationseffekten hat sich nicht nur die Armut der untersten Einkommensschichten "beschleunigt" - auch die "Erosion der Mittelschicht" nehme seitdem im wachsenden Ausmaße zu.

"Armut betrifft immer mehr Menschen, die zwar arbeiten, aber trotzdem in die staatliche Grundsicherung fallen." Die rasant steigenden Preise führten dabei dazu, dass sich immer mehr Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – also den Kino- oder gar Theaterbesuch, das Essengehen mit Freunden, den Workout in Schwimmbad oder Fitness-Studio – einfach nicht mehr leisten könnten. Weil das gesamte Einkommen für Wohnung, Energie und Lebensmittel drauf gehe. Und schon dafür nicht mehr reiche.

Proteste erwartet

"In Frankreich sind die Menschen wegen dieser Entwicklung bereits auf den Straßen und Demonstrieren", fordern dort lautstark stärkere staatliche Unterstützung ein. "Hier bei uns seltsamerweise noch nicht." Aus Sicht der Paritätischen müsste es aber auch bei hierzulande längst mehr "massive Proteste" geben, um auf die zunehmende Belastungen der unteren Einkommensschichten hinzuweisen und hier ein offensives und schnelles Gegensteuern der Sozialkassen einzufordern. Der erste Armutsberichts für die Region Nordschwarzwald sei in diesem Zusammenhang auch als Signal gemeint, als Gesellschaft auf die immer drängendere Schieflage im Sozialstaat zu reagieren.

So gebe es zum Beispiel zwar bereits "viele Hilfen" (Beispiel: der Kinderzuschlag), die aber entweder bei möglichen Leistungsbeziehern nicht bekannt seien, oder die für die Betroffenen "viel zu kompliziert, zu bürokratisch" seien in ihrem Antragsverfahren. "Das meint nicht nur die Sprachbarriere für Menschen mit zum Beispiel Migrationshintergrund." Auch "viele Deutsche" kapitulierten schlicht vor der viel zu komplizierten Sprache vieler Verwaltungen. Antragsverfahren sollten daher "von sich aus" so gestaltet werden, "dass sie wirklich jeder versteht."

Der Paritätische

Der Paritätische Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg ist einer der sechs anerkannten Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege. Er ist weder konfessionell, weltanschaulich noch parteipolitisch gebunden. Der Verband steht für Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Teilhabe und wendet sich gegen jegliche Form sozialer Ausgrenzung. Ihm gehören elf Regionalverbünde an, darunter der Regionalverbund Nordschwarzwald mit den Kreisverbänden Calw, Freudenstadt und Pforzheim/Enzkreis. Rund 120 Mitgliedsorganisationen aus den Bereichen der Behindertenhilfe, Kinder und Jugendschutz, Familie und Bildung, Straffälligen- und Opferhilfe, Suchtberatung und -hilfen, Teilhabe und berufliche Wiedereingliederung, Altenhilfe, Selbsthilfe sowie Mädchen- und Frauenarbeit, fachspezifische Beratungsangebote, Gesundheit und Prävention gehören dem Regionalverbund an.