Jacques Offenbach komponierte 1858 die erfolgreichste seiner Operetten als Satire auf die große Oper, auf Christoph Willibald Gluck, die Aura der Antike und auf die französische Gesellschaft seiner Zeit. Für einen politisch denkenden Regisseur birgt das Stück enormes Potenzial. Stuttgarts Schauspielintendant hat es bei seiner Inszenierung nicht genutzt.
Stuttgart - Was für eine Figur, was für eine Szene! „Das Herz ist willig, der Kopf ist schwach“, seufzt der Clochard mit dem schwarzen Gewand und dem ungekämmten, fisseligen Grauhaar unter dem schwarzen Zylinder. Wild fuchtelt er mit seinem Schlüsselbund durch die Luft, lehnt leise schwankend an der Rückwand des Zimmers und nimmt ein – na, sagen wir: drei Schlückchen von dem Trank, der ihm seliges Vergessen beschert. Eurydike, die er bewachen soll, Eurydike, der er seine Liebe eben erst gestand, indem er ihr Konvolute ineinander verschachtelter Verben ins Gesicht stammelte, um seine Bedeutung und seinen sozialen Status wenigstens ein bisschen zu erhöhen: Eurydike sitzt genervt daneben. Die Augen des Clochards blicken in eine leere Ferne, und dann steigt er, André Jung, der Schauspieler, der jetzt in Stuttgart den Höllenwächter Hans Styx gibt, auf den Souffleurkasten und intoniert einen der großen Hits von Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“.
„Als ich noch Prinz war in Arkadien“, singt André Jung, und spätestens als er sein Couplet mit dem herausgestotterten letzten „Arka – ha, ha – hahaha, dihihi, en“ beschließt, ist der Abend dort angekommen, wo er zuvor schon hätte sein sollen und auch später kaum je ist.
Die Sänger chargieren, werden nicht geführt
Jungs verspielte Tiefenschärfe erlebt man nur selten bei der Inszenierung, die der Stuttgarter Schauspielintendant Armin Petras dem Stück angedeihen lässt. Ein wenig von ihr findet sich im ersten Auftritt des Gottes Mars, den der zweite Schauspieler unter den Darstellern, Max Simonischek, ebenso spielt wie später den verlodderten Junkie Bacchus. Und manchmal ist auch etwas von ihr zu ahnen, wenn André Morsch, ein auch hier wieder wunderbar gelenkiger, agiler Bariton, als Pluto den geistigen Anführer einer hedonistisch-haltlosen Amüsiergesellschaft gibt.
Der Rest aber ist: Klamauk, Klamotte, Chargieren von Sängern, denen man mehr offenbar nicht an die Hand gab. Josefin Feiler, eine sehr sauber und filigran singende Eurydike, wird auf diese Weise ebenso zum Abziehbild wie ihr Gatte, den Daniel Kluge (mit klar fokussiertem, prägnantem Tenor, aber leider auch mit viel zu viel Druck) singt. Und wie Stine Marie Fischer, die als schlicht weiß gewandete Öffentliche Meinung kaum je eine wirkliche Bindung zum Spiel findet.
Unter den vielen Göttern der olympischen Spaß- und Wellnessgesellschaft macht Heinz Göhrig als Merkur seine Sache noch am besten. Der Rest ist grelle Überzeichnung, unter der Maria Theresa Ullrich als Juno, Yuko Kakuta als Cupido, Esther Dierkes als Venus und Catriona Smith als Diana ebenso leiden wie Michael Ebbecke als Jupiter. Der legt zwar kurz vor Schluss eine wunderbare Tanznummer hin und darf zuvor in einem niedlichen Fliegenkostüm Eurydike umsurren, aber auch seine Einlagen fügen sich nicht ein in die Komödie, die hier keinen Bogen hat, kein Tempo und meist auch kein präzises Timing. Deshalb schnurrt der Reigen der Szenen auch nicht ab, sondern wirkt zusammengesetzt – was manche Holprigkeit der deutschen Übersetzungen (von Ludwig Kalisch und Frank Harders-Wuthenow) zusätzlich befördert. So kommt es, dass sich ausgerechnet bei dieser tiefgründig-lustigen Operette der GAU des Komischen ereignet: Es läppert irgendwie vor sich hin, und selten hat man so wenig gelacht wie bei diesem „Orpheus in der Unterwelt“.
Stummfilm als Rahmen und politische Einbettung
Stuttgarts Schauspielintendant Armin Petras hat es versucht. Hat die Sprechdialoge im Stück oft recht hübsch ins Heute transportiert. Fährt im großen Bacchanal des vierten Bildes Tänzer, Statisten und Chor zu einer großen Höllenszene auf. Und hat dem Ganzen, gleichsam als politischen Rahmen, Stummfilmszenen vor- und manchmal auch zwischengeschaltet. Die zeigen, wie Orpheus die Fabrikarbeiterin Eurydike aus den grauen Untiefen des Proletariats befreit, und sie sollen das Stück einbetten in jene kurze Zeit der sogenannten Pariser Kommune, in der Frankreich nach einer Revolution gegen Napoleon III. sozialistisch organisiert wurde.
Diese Idee wird aber – auch wenn Stummfilm-Zwischentitel dies suggerieren sollen – nicht wirklich fortgesponnen, sodass der Rahmen mehr und mehr wirkt wie angeklebt. Und irgendwie erinnert man sich bei den eingespielten Filmszenen auch immer wieder wehmütig daran, wie intelligent und vielschichtig zuletzt Frank Castorf historische Transferleistungen (übrigens ebenfalls zur Zeit der Pariser Kommune und mit ähnlich wirkenden Filmszenen) in Gounods „Faust“ an der Oper Stuttgart geleistet hat. Von Castorfs genialer Inszenierung ist jetzt die Geschichte rund um das bürgerliche Ehepaar, das sich in „Orpheus in der Unterwelt“ nicht mehr ausstehen kann, meilenweit entfernt.
Für Idee und Fluss sorgt Sylvain Cambreling mit dem Staatsorchester Stuttgart
Gut also, dass es Sylvain Cambreling und das Staatsorchester gibt. Denen hätte die leichtere, farbreichere und biegsamere französische Sprache womöglich auch geholfen (sollte man in Stuttgart das Deutsche gewählt, damit Witze schneller verstanden werden können, dann ging das heftig daneben). Aber auch so klingt es aus dem Orchestergraben heraus überaus agil, geschmeidig und meistens auch ziemlich genau, die Phrasen sind beweglich, man tänzelt ein wenig, man hat Geist und Witz, und manchmal lässt man auch ein ganz klein bisschen die Sau raus. Zum Beispiel beim berühmten Can-Can, und das ist auch deshalb bitter nötig, weil es da auf der Bühne zwar voll, aber trotzdem schrecklich öde ist. Wären Dinah Ehms fantasievolle Kostüme nicht, hätte man sich rasch sattgesehen an der langweiligen Spaßgesellschaft.
Immerhin kriegt Orpheus am Ende sein Weib dann doch nicht zurück (Erleichterung auf beiden Seiten!), und ob die anfangs aus dem Proletariat erlöste Eurydike als Bacchantin nun wieder sozial absteigt, ist vielleicht wirklich egal. Dennoch hätte man gerne erlebt, wie sich Petras’ Regiekonzert rundet. Vergeblich gehofft: Die Operette endet irgendwie, verpufft, verläppert. Selten so wenig gelacht, selten so wenig gelernt.
Nochmals am 9., 15., 17., 21. und 29. Dezember