Bernd Stern von der Fachwartvereinigung Rottweil-Tuttlingen im Einsatz Foto: Jauch

Nicht mit einem Kuss, sondern mit schwerem Gerät und viel Handarbeit wurde die fast in Vergessenheit geratene Streuobstwiese am Dissenhorn in Göllsdorf aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt.

Rottweil-Göllsdorf - Fast wie in dem Märchen der Gebrüder Grimm versank die Schönheit der Streuobstwiese über die letzten Jahre langsam im Gebüsch. Die seit langem vernachlässigten Obstbäume vergreisten und brachen zum Teil in sich zusammen. Einige wilde Zwetschgenbäume und viele Fichten trieben zwischen den Obstbäumen nach oben und bedrängten diese.

Mit großem Aufsehen wurden etliche dieser großen Fichten nun durch einen Auftrag der Stadt Rottweil von der Firma Rainer Müller aus dem Neckartal gefällt und von der Wiese entfernt. Warum dieser recht rabiate Eingriff? "Das ist durchaus so gewollt. Vor allem der enorme Schattenwurf, den die großen Nadelbäume werfen, ist problematisch für die Streuobstwiese. Um vitale Obstbäume und eine artenreiche Wiese zu erhalten, ist es enorm wichtig, dass genug Licht unten ankommt", erklärt Magnus Jauch, Fachberater für Gartenbau und Grünordnung am Landratsamt.

Pilotprojekt dient auch Biotopverbund

Schon seit einigen Jahren wird darüber diskutiert, inwiefern die Streuobstwiese am Dissenhorn aufgewertet und wieder nachhaltig genutzt werden könnte. "Wir sind seit 2018 dabei, eine Streuobst-Förderkulisse für den Landkreis Rottweil aufzubauen. Die Fläche am Dissenhorn eignet sich besonders zur Umsetzung dieser Förderkulisse im Rahmen eines Pilotprojektes, da diese Maßnahme gleichzeitig dem landesweiten Biotopverbund dient", führt Wolfram Rösch vom Landschaftserhaltungsverband Landkreis Rottweil aus.

In diesem Zuge beantragte die Stadt Rottweil als Eigentümerin der Flächen Fördergelder. "Das ist auch für die Stadt ein tolles Projekt", freut sich Stephanie Siegel. Dankbar ist auch Bürgermeister Christian Ruf: "Hier ist durch die vorbildliche Zusammenarbeit aller Beteiligten und unter Einbindung des Ehrenamts ein Naturschutzprojekt in unserer Ortschaft Göllsdorf gelungen, das auch über die Ortsgrenzen hinaus Beachtung finden wird."

Für die aufwändige Erstpflege der alten Obstbäume wurde das tatkräftige Know-How der Baum- und Fachwartvereinigung Rottweil-Tuttlingen unter Anleitung von Bernd Stern aus Göllsdorf mit ins Boot geholt. Die BUND-Ortsgruppe Raum Rottweil pachtet seit November 2021 die Streuobstwiese und wird in den kommenden Jahren den Baumschnitt, die Nutzung des Obstes und die Verpachtung einzelner Bäume organisieren.

"Wir wollen einerseits die wertvolle ökologische Funktion der Streuobstwiese erhalten und andererseits auch der regionalen Obstverwertung wieder mehr Anerkennung verleihen", so Christina Kraus vom BUND Raum Rottweil.

Nutzung der Wiese sehr wichtig

Die hervorragende Zusammenarbeit zeigte sich in diesem Winter bei den drei Schnitt-Terminen zur Erstpflege der Obstbäume. Nicht zu vergessen in der Reihe der Akteure sind die beiden Schäfer mit ihren Tieren, die die Wiesen unter den Bäumen beweiden. Denn die Nutzung der Wiese ist ebenso wichtig wie die richtige Pflege der Obstbäume.

Die wiederbelebte Streuobstwiese reiht sich im Jungbrunnental in viele andere naturschutzfachlich wertvolle Flächen ein. Teile des Tals zählen zum Flora-Fauna-Habitat "PrimAlbvorland", hier finden sich das Naturschutzgebiet Linsenbergweiher, artenreiche Mähwiesen und kleinflächig geschützte Biotope. Der Göllsdorfer Ortsvorsteher Wolfgang Dreher freut sich besonders, dass nun der lang bemängelte Zustand der Streuobstwiese verbessert wird. Wanderer und Radfahrer im Gebiet werden gebeten, sich entsprechend rücksichtsvoll gegenüber der Natur zu verhalten, insbesondere im Bereich des Naturschutzgebietes.

Der BUND Raum Rottweil freut sich auf Bürger und Familien, die sich gerne auf der Streuobstwiese in Göllsdorf oder beim Thema Streuobst engagieren oder einen Baum pachten möchten (www.bund-rw.de).

Info zu Streuobstwiesen

Streuobstwiesen gehören zu unseren artenreichsten Lebensräumen. Bis zu 3000 Tierarten und 450 Pflanzenarten können gleichzeitig auf einer intakten Streuobstwiese nebeneinander existieren. Auch viele seltene und vom Aussterben bedrohte Arten finden hier ein zu Hause, beispielsweise Steinkauz und Wendehals, Siebenschläfer und Haselmaus, Wildbienen und Hornissen. Auch Fledermäuse finden in den Baumhöhlen und Rindenspalten einen Unterschlupf.

Durch Mähen oder Beweidung wird der Pflanzenaufwuchs von der Fläche entfernt, was auf lange Frist mehreren konkurrenzarmen Pflanzenarten das Durchkommen ermöglicht. Im Gegensatz zu Mähmaschinen schaffen die Schafe dabei mit Trittmulden und Dung weitere Kleinst-Strukturen, die vor allem der Insektenwelt zugutekommen.

Mit dem Fokus auf die Artenvielfalt ist wichtig zu beachten, dass auch genügend Totholz auf der Fläche verbleibt. So werden alte Stämme oder Holzstapel gezielt als Strukturelemente auf der Fläche belassen oder gar angelegt. Streuobstwiesen sind bei uns ein Teil der Kulturlandschaft und finden sich häufig im Übergangsbereich von Siedlung zum Offenland oder zum Wald. Sie sind ein Musterbeispiel, wie gerade durch die Nutzung durch den Menschen ein strukturreicher Lebensraum für eine Vielzahl an Arten entstehen kann.

Den Kulturobstbau verbreiteten die Römer in den germanischen Kolonien. Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden viele Streuobstwiesen zur Eigennutzung bewirtschaftet und es zog sich ein breiter Streuobst-Gürtel vom Stuttgarter Raum durch das Alb-Vorland bis in die Baar. Seit den 1950er Jahren verschwanden jedoch nach und nach die alten Hochstamm-Obstwiesen, da der Obstanbau auf intensiv bewirtschaftete Plantagen umgestellt wurde. Vor allem bei uns im höher gelegenen und raueren Süden Baden-Württembergs sind viele Streuobstwiesen in den letzten Jahrzehnten verschwunden.

Umso erfreulicher, dass die Streuobstwiese am Dissenhorn mit ihren rund 100 Obstbäumen überhaupt noch existiert. Heute gewinnen regionale Produkte von Streuobstwiesen wieder mehr an Bedeutung und vor allem gelangt das Bewusstsein über den Arten-Hotspot Streuobstwiese wieder verstärkt in die Gesellschaft.