Vor allem beim Verkauf von Lebensmitteln herrscht ein deutliches Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. So kamen im Ausbildungsjahr 2021/22 in der Ortenau auf vier Bewerber 91 offene Stellen – etwa als Fleischfachverkäufer. Foto: Weihrauch

Dramatisch viele Stellen sind im zurückliegenden Ausbildungsjahr unbesetzt geblieben. Auf einen unversorgten Bewerber kamen rechnerisch 14 freie Plätze. Insgesamt fanden sich für 575 Stellen in der Ortenau keine Azubis.

Offenburg - "Es gibt fast keine Branche mehr, in der wir keine unbesetzten Ausbildungsstellen haben", konstatierte Theresia Denzer-Urschel, Chefin der Arbeitsagentur Offenburg, am Montag vor Pressevertretern. Unter anderem mit Andreas Finke von der Agentur für Arbeit Freiburg, und Vertretern der Handwerkskammer sowie der IHK zog sie bei einer Pressekonferenz Bilanz zum Ausbildungsjahr 2021/22.

Weniger Bewerber, mehr gemeldete Stellen:Der Trend der vergangenen Jahre setzt sich fort. Weniger Bewerbern (minus sechs Prozent) standen mehr Ausbildungsstellen gegenüber (plus vier Prozent). Auf 100 Ausbildungswillige kamen bei der Arbeitsagentur Offenburg 134 Stellenangebote. Zwar bedeute die aktuelle Entwicklung, so Denzer-Urschel, dass die Chancen auf einen Ausbildungsplatz nie größer waren als heute. "Die rückläufige Bewerberzahl führt aber dazu, dass die Sorge um den Fachkräftenachwuchs weiter wächst." Schlussendlich kamen zuletzt auf einen unversorgten Bewerber 14 unbesetzte Ausbildungsstellen, insgesamt 575 blieben offen. Eine "absolute Wahnsinnszahl", kommentierte die Agenturchefin. Ähnliches berichten auch die Handwerkskammer Freiburg und die Industrie- und Handelskammer Südlicher Oberrhein. Im Ortenaukreis registrierte die IHK 1791 neue Ausbildungsverträge, rund drei Prozent mehr als im Vorjahr (gegenüber 2019 jedoch ein Minus von elf Prozent). Die Handwerkskammer verzeichnete im Kreis 705 neue Beschäftigungsverhältnisse, im Vorjahr waren es 826 gewesen. Zum Vergleich: 2007 hatte es etwas mehr als 1000 Mal zwischen Firmen und Bewerbern gefunkt. "Das ist in etwa 15 Jahren ein Rückgang in der Ortenau von 30 Prozent", konstatierte Wolfram Seitz-Schüle, Geschäftsführer der Handwerkskammer.

Fachverkäufer werden dringend gesucht: Besonders weit klafft die Schere zwischen Stellen und Bewerbern im Verkauf von Lebensmitteln auseinander. Auf einen Bewerber kamen 23 Plätze, betonte Agentur-Chefin Denzer-Urschel. Das ist neu – zuletzt war das Missverhältnis im Gastro-Bereich am größten gewesen (aktuell fünf Stellen pro Bewerber). Auf Platz zwei – mit dem Verhältnis eins zu sieben – landete die Lebensmittelverarbeitung. Doch auch in den Sparten Bau, Feinwerk- und Werkzeugtechnik, Metallbau und Energietechnik gibt es zwei bis vier Mal so viel Angebot wie Bewerber.

Migration stabilisiert Ausbildungsmarkt: Insgesamt hat die IHK bei den neuen Ausbildungsverhältnissen 2021/22 mehr als 100 mit Flüchtlingen registriert. "Hätten wir die Geflüchteten und generell die ausländischen Staatsbürger nicht, dann hätten wir auch in diesem Jahr einen Rückgang zu verzeichnen", konstatierte Simon Kaiser, Geschäftsführer Aus- und Weiterbildung. Bei allen Ausbildungsverhältnissen liege der Anteil bei mehr als 13 Prozent. "Wir brauchen Migration", so Kaiser. "Wir sollten keine Angst haben vor Zuwanderung." Die Erfolge seien da, sie stabilisiere etwa den Ausbildungsmarkt. "Der Anteil von Azubis ohne deutschen Pass liegt im Handwerk in der Größenordnung von 20 Prozent", berichtete Seitz-Schüle, "und das schon seit vielen Jahren". Eine aktive arbeitsmarktorientierte Zuwanderungspolitik sei in Zukunft fundamental wichtig – "auch für uns in der Region".

Immer weniger Frauen gehen in die Lehre:Sowohl Handwerkskammer als auch IHK registrieren beide seit Jahren einen Rückgang an weiblichen Auszubildenden. Besonders stark in sogenannten männerdominierten Berufen, wie etwa im Bereich Anlagenmechanik oder im Elektroniker-Handwerk. "Wir können uns nicht erlauben, dass der Anteil von Frauen in sogenannten Zukunftsberufen bei zwei, drei Prozent liegt", betonte Seitz-Schüle. Es sei eine zentrale Herausforderung der Zukunft, Frauen verstärkt "willkommen zu heißen und zu integrieren". Agenturchefin Denzer-Urschel appellierte in diesem Zusammenhang an Unternehmen, möglichst Angebote für junge Frauen zu schaffen, in technische Berufe hineinzuschnuppern.

Möglichkeiten für Jugendliche immer vielfältiger:"Jugendliche haben viele Alternativen zur Berufsausbildung", erläuterte Denzer-Urschel. Nur rund jeder zweite Schulabgänger lande im dualen System. Andere besuchen weiterführende Schulen, machten Praktika oder studieren. "Bei einem so stark aufnahmefähigen Arbeitsmarkt gehen auch manche junge Leute direkt in die Erwerbstätigkeit." Zudem – so waren sich alle einig – schlage der demografischer Wandel nun mit voller Härte zu. Dass Corona Berufsberatung, Praktika und den Besuch in Schulen deutlich erschwert habe, komme noch dazu. "Stellt mehr Praktika zur Verfügung!", appellierte der Freiburger Agenturchef an die Unternehmen. "Den Fachkräftemangel bekämpfen wir nicht einfach nur mit einer Anzeige in der Zeitung."