Gut für die Wirbelsäule: Einfach einmal abhängen Foto: Baumann

Beim Anti-Gravity-Yoga heißt es nicht nur ankommen und entspannen. Auch Akrobatik ist gefragt. Das außergewöhnliche Work-out begeistert inzwischen Menschen auf der ganzen Welt.

Stuttgart - Fledermäuse haben sicher keine Rückenschmerzen. Denn beim Nach-unten-Hängen wird der Druck von den Wirbeln genommen. Gut, die nachtaktiven Flatterer sitzen auch wesentlich weniger am Schreibtisch als ein menschliches Bürotier. Doch die Umkehrposition hilft auch Letzterem die Bandscheiben zu entlasten. Warum also nicht von der Decke hängen wie eine Fledermaus. Und bei Anti-Gravity-Yoga (Yoga gegen die Erdanziehungskraft) geht dies einfacher als zunächst vermutet.

Im Gerlinger Fitnessstudio Point hängen meterlange Tücher von der Decke. Schritt für Schritt zeigt Trainerin Petra Kurz, wie der Einstieg funktioniert. Zunächst heißt es wie beim klassischen Yoga: ankommen und entspannen. Sonst ist aber so einiges anders. In einer leichten Grätsche schweben die Teilnehmer knapp einen Meter über dem Boden. Wie eine hauchdünne Wand umgibt sie das Tuch, schottet sie ab, gibt einen kleinen privaten Raum zum Runterkommen. „Das ist die Mutterleibsposition“, erklärt die Trainerin. Wieder auf dem Boden angekommen, gewöhnt sich die Gruppe erst einmal ans Tuch. Bei Stellungen, die Maultier, Kuh oder Kojote heißen, bleiben die Beine auf der Matte. So weit, so einfach.

Stück für Stück verliert die Gruppe die Bodenhaftung. Am um die Arme geschwungenen Tuch ziehen sich die Teilnehmer hoch. Die Ellenbogen eng am Körper. „Beine ausstrecken, anziehen, ausstrecken und ab“, sagt die Trainerin. Puh. Jetzt wird’s ernst. Bauchmuskelkater garantiert. Und vor allem der nächste Teil ist nichts für Feiglinge.

Bei der sogenannten Kronleuchter-Übung ist Mut gefordert: Das Tuch hängt straff leicht über dem Steißbein. Ein Bein ist darum herumgewickelt. Der Kopf hängt nach unten. Wer kann, greift nach dem zweiten Bein hinten. Die Stellungen wechseln. Die Bandscheiben bekommen Luft. Die Köpfe werden rot. Die Gruppe hängt aus. Oben Ferse an Ferse in der Luft, die Beine angewinkelt, unten die baumelnden Hände auf dem Boden.

Für jede Übung braucht es ein wenig Überwindung. Das Vertrauen in die Anweisungen der Trainerin lohnt sich aber. Adrenalin folgt Endorphin. Auch wenn nicht alles gleich perfekt klappt. Der Mut wird mit Glücksgefühlen belohnt, die den Körper bei der Endentspannung durchströmen. Sanft lässt die Trainerin die Körper, die nun bequem der Länge nach im Tuch liegen, schaukeln. Die Muskeln sind durch die vielen statischen Übungen trainiert und gedehnt. Der Körper fühlt sich fünf Zentimeter länger an. Mit einer Rolle rückwärts geht’s zurück auf den Boden. Akrobatik für Anfänger.

Der ehemalige New Yorker Akrobat Christopher Harrisson hat die Trainingsmethode bereits 1991 entwickelt. Eigentlich wollte der Gründer der amerikanischen Gruppe „Anti Gravity“ seinen Mitgliedern nur eine Möglichkeit bieten, sich zwischen ihren Vorstellungen fit zu halten. Zu dem Zweck hat er seine Yoga-Erfahrungen mit seinem „Arbeitsgerät“, dem Akrobatiktuch, kombiniert. Das Resultat: Das außergewöhnliche Work-out begeistert inzwischen Menschen auf der ganzen Welt. Auch ein Konkurrenzprogramm ist inzwischen auf dem Markt: Air-Yoga. Seit vier Jahren gibt’s einen der wenigen Kurse im Raum Stuttgart in Gerlingen. Klar ist der Kurs nicht für jeden etwas. Deshalb fragt die Trainerin zu Beginn: „Bluthochdruck? Glaukom? Probleme mit den Bandscheiben? Schwanger?“ Wer alles mit „Nein“ beantworten kann und dazu Kleidung trägt, die über die Achseln und die Kniekehlen geht, darf mitmachen.

Andrea Zöbele ist fast ein Jahr dabei. „Mir macht Sport grundsätzlich keinen Spaß“, sagt sie. Bei Anti-Gravity-Yoga habe sie aber eine Art gefunden, ihren Körper ohne das ihr lästige Ausdauer- und Geräte-Training in Form zu bringen. Elke Altenhof ist erst zum vierten Mal dabei. Für sie ist das Training eine Reise zurück in ihr Kinderzimmer. „Dort hatte ich Ringe.“ Und an denen ist sie auch kopfüber gebaumelt. Wie eine Fledermaus. „Wo hat man das Gefühl denn als Erwachsener noch?“, fragt sie.