Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, ist in der Talkshow mit Anne Will der Meinung, dass der Westen viel zu wenig für sein Land tue und Ausreden suche. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

In der Talkshow mit Anne Will werden große Gegensätze zwischen dem Westen und der Ukraine deutlich – der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk fordert ein Eingreifen der Nato, während Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) der Ansicht ist, dadurch einen Atomkrieg heraufzubeschwören.

Berlin - Man kann Annalena Baerbock ansehen, wie sehr sie der Krieg in der Ukraine und die scheinbar ausweglose politische Situation mitnimmt – im Gespräch, das Anne Will am Sonntagabend (6. März 2022) vor der eigentlichen Talkshow mit der Außenministerin führt, wirkt deren Gesicht noch verhärteter als sonst. Es zerreiße ihr das Herz, was die Menschen in der Ukraine derzeit erleiden müssten, sagt Baerbock, aber „wir müssen auch einen kühlen Kopf bewahren“.

Lesen Sie auch unseren Newsblog zum Ukraine-Krieg

Wenn die Nato eine Flugverbotszone über den umkämpften Gebieten durchsetze, wie die Ukraine es fordere, dann müsse man womöglich russische Flugzeuge abschießen. Und das könne sich zu einem Weltkrieg ausweiten. „Wir tragen auch Verantwortung für die EU-Bürger“, betont die Außenministerin: „Ein Überschwappen des Krieges auf Polen oder die baltischen Staaten können wir nicht verantworten.“ Es gebe Momente im Leben, in denen man nur zwischen Pest und Cholera wählen könne. Dies sei ein solcher Moment.

Noch seien keine Waffenlieferungen angekommen, sagt der Botschafter

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, zeigt sich in der anschließenden Diskussion enttäuscht. „Der Ukraine muss mit allem geholfen werden, was man hat“, fasst er seine Position zusammen. Dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin gehe es um viel mehr, er werde weitermachen, wenn er sich die Ukraine einverleibt habe. Zumindest müsse der Westen „kreative Lösungen“ finden. Für ihn ist das Argument, dass die Nato den Konflikt nicht weiter eskalieren wolle, nur eine Ausrede.

Melnyk beschwert sich auch, dass bisher von den zugesagten Hilfs- und Waffenlieferungen gar nichts angekommen sei in der Ukraine außer „Esspaketen“. Die Hilfe sei bisher nur eine „leere Worthülse“. Dabei zähle jeder Tag. Die Ukraine hätten bereits 280 russische Panzer vernichtet, mehr, als die Bundeswehr derzeit in ihrem Bestand habe; 11 000 russische Soldaten seien getötet worden. „Jetzt kommt es darauf an“, so Melnyk: „Es lohnt sich, uns zu helfen.“ Und er fügt hinzu: „Ich wünsche mir, dass die EU mehr Zutrauen hat in den Kampfeswillen der Ukraine.“

Die Nato prüft Lieferung von Flugzeugen

Alexander Graf Lambsdorff (FDP) will die Kritik nicht so stehen lassen. Der Westen tue bereits sehr viel – gerade werde überlegt, ob man der Ukraine Flugzeuge aus Nato-Beständen überlasse. Das hat auch Außenministerin Baerbock angesprochen. Es kämen allerdings nur bestimmte Flugzeuge aus Polen in Frage, denn nur für diesen Typ seien die ukrainischen Piloten ausgebildet. Zugleich müsse Polen aber auch verteidigungsbereit bleiben. Ob diese Flugzeug-Lieferung dann nicht in Russland als Aggression gewertet werde, hakt Anne Will nach. Das könne sein, antwortet Baerbock, aber was Putin derzeit mache, sei eine „Aggression hoch tausend“.

Auch Frans Timmermans, der Vizepräsident der EU-Kommission, verteidigt die Position Baerbocks. Er habe Putin als einen Mann kennengelernt, „der nie einen Rückschritt macht.“ Putin könne immer nur weiter eskalieren. „Wir dürfen das Risiko eines dritten Weltkriegs nicht eingehen“, so Timmermans. Für Putin, sagt der frühere niederländische Außenminister weiter, stehe im Übrigen gar nicht die Furcht vor einer Nato-Erweiterung im Vordergrund, sondern die Furcht vor einer „Demokratie-Erweiterung“. Putin habe gesehen, dass die Menschen selbst in Belarus für ihre Freiheit auf die Straße gingen: „Das hat dem russischen Präsidenten zu denken gegeben.“

Soll Deutschland auf Gas und Öl aus Russland verzichten?

Beeindruckt zeigt sich der pensionierte deutsche General Egon Ramms von der Kampfeskraft der Ukrainer. „Das Volk und die Streitkräfte der Ukraine können diesen Krieg gewinnen“, sagt er sogar. Allerdings befürchtet Ramms ein noch brutaleres Vorgehend Putins – wenn die russischen Landstreitkräfte nicht schneller vorwärts kämen, könne es verstärkt zu Luftangriffen kommen.

Lange geht es in der Talkshow um die Frage, ob Deutschland von sich aus auf die Einfuhr von Gas, Öl und Kohle aus Russland verzichten soll, um den Druck auf Russland zu erhöhen. Der ukrainische Botschafter Melnyk befürwortet dies uneingeschränkt: Das sei ein zentraler Punkt, denn jeden Tag erhalte Putin eine Milliarde Euro aus den Energiegeschäften. Diesen Geldzufluss müsse man unterbinden. „In Deutschland ist die Angst gerade der Hauptratgeber“, sagt der Botschafter: „Aber wichtig bei den Sanktionen ist es, jetzt alle Schlupflöcher zu schließen.“

Frans Timmermans befürchtet soziale Konflikte

Auch da ist Melnyk mit seiner Meinung alleine in der Talkrunde. Man befürchte soziale Konflikte in Deutschland, wenn die Energiepreise durch einen Boykott stiegen, lautet der Tenor. Auch für Frans Timmermans ist noch nicht klar, wem man mit einem Boykott mehr schade, Putin oder den westlichen Bürgern. „Einen Gas-Verzicht können wir bewerkstelligen, aber beim Öl ist es kompliziert, da gibt es ein hohes Risiko“, sagt Timmermanns. Alexander Graf von Lambsdorff ist sich zudem sicher, dass Russland trotz eines Boykotts auf längere Zeit genügend Geld für einen Krieg besitze.

Außenministerin Baerbock hat sich im vorgelagerten Interview mit Anne Will ebenfalls gegen einen Boykott ausgesprochen. Das bringe nur etwas, wenn der Westen ihn lange durchhalten könne. Wirtschaftsminister Robert Habeck sei aber mit Hochdruck dabei, Alternativen zu suchen für die russischen Energielieferungen.

Die Außenministerin glaubt Putin „keinen Buchstaben mehr“

„Trauen Sie Putin zu, uns anzugreifen?“, fragt Anne Will zuletzt ganz direkt die Außenministerin. Lambsdorff glaubt dies nicht, auch Putin sei bewusst, was ein Angriff auf ein Nato-Land bedeute: „Dann kämpfen die zwei größten Atomstreitkräfte direkt gegeneinander – das kann niemand wollen.“

Ganz so eindeutig äußert sich Annalena Baerbock nicht. Die letzten Wochen hätten gezeigt, dass es für Putin keine roten Linien gebe. Man könne keinen einzigen Buchstaben in Putins Sätzen glauben. Aber im Moment gelte es vor allem, den Menschen in der Ukraine zu helfen. Und fügt dann, allerdings mit fast resigniertem Unterton, hinzu: „Wir arbeiten auf allen Kanälen daran, dieses Desaster zu beenden.“