Knapp eine Million Menschen im Südwesten können nicht richtig lesen und schreiben.  

Stuttgart - Analphabetismus, der meist mit Entwicklungsländern in Verbindung gebracht wird, ist auch hierzulande ein ernst zu nehmendes Thema. Für Betroffene ist eine aktive Teilnahme an der Gesellschaft nicht möglich.

Analphabetismus, also Defizite beim Lesen und Schreiben bis hin zu völligem Unvermögen dieser Fähigkeiten, betrifft in Afrika häufig 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung. Grund dafür ist meist das in jenen Ländern schwach bis gar nicht ausgereifte Bildungssystem. Dabei unterscheidet man zwischen dem totalen und dem funktionalen Analphabetismus. Bei Ersterem fehlt das Verständnis von Schrift völlig, mehr als einzelne Wörter können meistens nicht in Zusammenhang gebracht werden.

"Funktionale Analphabeten können höchstens so gut Lesen und Schreiben wie Drittklässler, maximal allerdings auf Satz-, nicht auf Textebene", sagt Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung. Betroffene Personen können dadurch nicht in angemessener Form am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Das beginnt bei normalen Alltagsdingen. Die Betroffenen können selbst einfache Arbeitsanweisungen nicht verstehen. Auch am Lesen von Beipackzetteln für Medikamente, Gefahrenhinweisen für gefährliche Stoffe sowie dem Anfertigen einer Telefonnotiz für die Arbeitskollegen scheitern sie, sagt Hubertus.

Männer deutlich schlechter als Frauen

Wie vielen Menschen auch hier in Baden-Württemberg das Lesen und Schreiben nicht möglich ist, wurde bis vor kurzem noch mit knapp 8 Prozent beziffert. Licht ins Dunkel brachte Anfang des Jahres eine Studie der Universität Hamburg. Zum Thema "Literarität von Erwachsenen auf den unteren Kompetenzniveaus" wurden bei der sogenannten Level-One-Studie knapp 8500 Personen im Alter von 18 bis 64 Jahren bundesweit getestet. Die Ergebnisse der Studie: 14,5 Prozent der Bevölkerung zählen zu den funktionalen Analphabeten, 4,5 Prozent sogar zu den totalen - im Südwesten macht das alleine eine Million erwerbsfähige Menschen. International gesehen liegt Deutschland damit in guter Gesellschaft - zwischen Frankreich mit 9 Prozent und England mit knapp 16 Prozent, was ähnliche Studien belegen. Eine Zahl, die ebenfalls interessant ist: Weitere 25 Prozent schreiben und lesen selbst einfache Wörter langsam und/oder fehlerhaft.

Seine Leseschwäche verbergen ist gar nicht so einfach

Betrachtet man die Gruppe deutscher Analphabeten näher, zeigt die Studie: Mit 60 Prozent Anteil schneiden Männer deutlich schlechter ab als Frauen und die Vermutung, Analphabetismus würde sich in den älteren Bevölkerungsschichten konzentrieren, wird widerlegt. Zwar ist hier, bei den 50- bis 64-Jährigen, der Anteil am größten, doch auch zahlreiche junge Menschen sind betroffen. So sind etwa 13 Prozent der 18 bis 29-Jährigen funktionale Analphabeten. Der Kern des Problems ist häufig das Umfeld. Peter Hubertus meint: "Die Betroffenen werden mit anderen Augen betrachtet. Ihnen wird Intelligenzmangel unterstellt."

Die meisten von ihnen seien jedoch in der Tat sehr clever: "Sie müssen erstens in einer lese- und schreiborientierten Welt zurechtkommen", zugleich müssten sie "managen, ihr Defizit irgendwie vor ihren Mitmenschen zu verbergen", erläutert Hubertus. Man solle nicht nur den Ausbau der Förderungsprogramme ins Auge fassen, sondern auch weiterhin die Gesellschaft für das Thema sensibilisieren. Doch warum ist die Quote der Analphabeten auch in Deutschland so hoch? Die Kompetenzen seien jedenfalls ähnlich verteilt, wie früher, meint Peter Hubertus. Nur die Anforderungen der Verwaltungen, selbst für die einfachsten Berufe, steigen immer mehr an. Außerdem sieht er einen Trend, selbst in akademischen Kreisen immer toleranter gegenüber Rechtschreibfehlern zu werden. "Es ist zwar wichtig, dass es Toleranzen gibt, doch jeder sollte ermutigt werden, sein Lernpotential voll auszuschöpfen", fordert Hubertus.

Schamgefühle

Da die Gründe des Analphabetismus so vielseitig sind und viele der Betroffenen ihr Defizit aus Scham verschweigen, ist es schwer, gegen dieses Problem anzugehen. Allen voran bemühen sich die Volkshochschulen um eine Lösung, indem sie vielerorts Alphabetisierungskurse anbieten. Das Angebot reiche jedoch bei weitem nicht aus, meint Martina Haas, Fachreferentin für Sprachen beim Volkshochschulverband Baden-Württemberg. Im Land werde nicht einmal ein Prozent der Betroffenen erreicht. Wer diese Möglichkeit nicht nutzen kann oder will, der kann auf einem Online-Portal seine Sprachkompetenzen weiter ausbauen. Auf ich-will-lernen.de werden neben Lese-, Schreib- und Rechenübungen auch gezielte Programme zur Vorbereitung auf Schulabschlüsse angeboten. Mit knapp 30.0000 Anmeldungen seit 2004 und 20.000 Zugriffen pro Monat ist das Portal Marktführer in Deutschland und wird stetig ausgebaut, sagt Boris Zaffarana, Sprecher des Deutschen Volkshochschulverbandes. So gibt es auch Hilfe zum Thema "Leben und Geld".

Das Land hat das Problem zwar erkannt, Förderungsprogramme zur Bekämpfung des Analphabetismus gibt es allerdings keine. Zum Thema "Fit fürs Leben in der Wissensgesellschaft" diskutierte Ende 2010 bereits eine Untersuchungskommission - diese ist jedoch nun abgeschlossen. Was mit den Handlungsempfehlungen dieser Kommission angefangen wird, ob es Gesetze bezüglich der Förderung oder weitere Zuschüsse für die Verbände und Volkshochschulen geben wird, bleibt offen. Bis zum 22. Oktober können sich Interessierte in der Stadtbibliothek Reutlingen über den Kampf gegen Analphabetismus informieren. Unter Leitung des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung findet man hier eine umfangreiche Ausstellung. Der nächste Vortrag findet am 28. September statt.