Eine neue schwedische Studie zeigt, dass Profifußballer durch Kopfstöße ein erhöhtes Risiko für Demenzerkrankungen haben. Der DFB und Vereine in der Region wissen um das Problem. Doch passen sie Training und Spiel an?
Es sind Szenen, die Fußballfans jubeln lassen: Der Ball wird beim Eckstoß in den Strafraum gezwirbelt, der Stürmer schraubt sich höher als alle Abwehrspieler – und hämmert den Ball mit der Stirn in die Maschen des gegnerischen Tores. Dass ausgerechnet solche in unzähligen Spielen vorkommenden Aktionen langfristige Hirnschäden verursachen können, ist schon länger bekannt. Doch eine neue schwedische Studie präzisiert nun, dass Topspieler einem 1,5-fach höheren Risiko für Alzheimer und anderen Demenzerkrankungen ausgesetzt sind als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Das Risiko könnte noch höher sein
Als Ursache gelten wiederholte leichte Hirnverletzungen durch Kopfbälle, schreiben die Forscher im Fachmagazin „Lancet Public Health“. Sie haben Gesundheitsdaten von gut 6000 männlichen Spielern aus der schwedischen Topliga der vergangenen Jahrzehnte ausgewertet und mit denen einer großen Vergleichsgruppe aus der Bevölkerung verglichen.
Von den Topspielern entwickelten demnach neun Prozent im Verlauf ihres bisherigen Lebens Erkrankungen des Nervensystems und damit eineinhalbmal so viele wie in der Vergleichsgruppe, wo es sechs Prozent waren. Da die meisten Teilnehmer der schwedischen Studie zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch lebten, könnte das Risiko wahrscheinlich insgesamt noch höher liegen; etwa, wenn weitere Studienteilnehmer erkranken, erläutern die Forscher.
Andere Länder greifen härter durch
Nicht nur starke Kopfbälle oder gar Zusammenstöße beim Kopfballduell scheinen Erkrankungen des Nervensystems zu begünstigen. 2012 zeigte eine Studie aus den USA, dass auch Minitraumen, die kaum auffallen, die Hirnrinde schrumpfen lassen und zu langfristigen Hirnschäden führen können. Die Liste der Namen einstiger Topspieler, die an einer Form der Demenz, zu der auch Alzheimer zählt, verstarben, wird länger: Von 2018 bis 2020 starben vier der englischen Weltmeister von 1966 in einem hochgradig dementen Zustand. 2019 erlag der frühere Bundesliga-Profi und Ex-Schalke-Manager Rudi Assauer im Alter von 74 Jahren seiner Alzheimer-Erkrankung. Fünf Jahre zuvor verstarb sein Bruder, der frühere Fußballprofi Lothar Assauer, an derselben Krankheit. 2021 folgte der Rekordtorschütze Gerd Müller, der mehrere Jahre an Alzheimer litt und 75 Jahre alt wurde. Natürlich ist unklar, ob der Ausbruch der Erkrankungen der Gebrüder Assauer durch eine familiäre Veranlagung oder im Falle von Müller auch durch dessen Alkoholismus begünstigt wurden. Ein Zusammenhang mit jahrelangem Kopfballtraining liegt aber dennoch nahe.
Rund eine halbe Million Kinder würden geschützt werden
Während in England Spieler seit der Saison 2021/22 im Training nur noch zehn Kopfbälle mit höherer Wucht pro Woche ausführen dürfen, und Kinder unter zwölf Jahren sowohl in England, Schottland, Nordirland als auch in den USA (unter zehn Jahre) keine Kopfbälle mehr trainieren dürfen, verzichtet der Deutsche Fußball-Bund (DFB) auf ein klares Verbot oder auf eine Obergrenze für Kopfbälle.
Stattdessen setzt der Verband ab der Saison 2024/25 auf neue Spielformen in den Altersklassen U 6 bis U 11. Kleinere Spielfelder und kleinere Mannschaftsgrößen sollen jedem Spieler künftig mehr Ballkontakte ermöglichen. Statt langer, hoher Schüsse, die zu Kopfballduellen führen können, gebe es stattdessen mehr Flachpassspiele. Rund eine halbe Million Kinder würden somit im Wettbewerb praktisch nicht mehr köpfen, erklärt der DFB. Zudem werde in den allermeisten Altersklassen des Nachwuchsfußballs sowohl im Training als auch im Wettbewerb auf kleinere, viel leichtere Bälle gesetzt. Das ist wichtig, denn Kinder haben noch nicht die neuromuskulären Voraussetzungen, um Bälle sauber mit dem Kopf zu treffen. Gehirne von Kindern gelten zudem als besonders empfindlich gegenüber Traumen. Dass die neuen Regeln jeden Verein erreichen, sei eine „Daueraufgabe“ für den DFB und seine Landesverbände, heißt es. Der Württembergische Fußballverband versichert jedenfalls, dass das Thema Kopfballspiel zu jeder Aus- und Fortbildung von Trainern gehöre.
Aufklärung ist „Daueraufgabe“
Die Zeiten, in denen Kopfstöße gezielt trainiert wurden, scheinen auf den Fußballplätzen der Region Stuttgart ohnehin vorbei zu sein. „Wir wissen um die Risiken, die Kopfbälle mit sich bringen, und verzichten deshalb bis zum Alter von 15 Jahren auf das Kopfballtraining mit normalen Fußbällen“, sagt der sportliche Leiter des Nachwuchsleistungszentrums des VfB Stuttgart, Daniel Teufel. Stattdessen würden Softbälle genutzt. Zudem sensibilisiere man die Jugend für die Kopfballproblematik.
Ein Verbot wird es nicht geben
Damit der Nachwuchs weiß, wie man einen Ball im Fall der Fälle mit dem Kopf richtig annimmt, werden auch im Training des MTV Stuttgart Schaumstoffbälle oder in den untersten Altersklassen Luftballons genutzt, die kaum Erschütterungen verursachen würden, sagt Frederic Moquet, stellvertretender Jugendleiter und Trainer der C-Jugend.
Seit seiner Kindheit spielt der 21-Jährige Fußball und erinnert sich an Kopfbälle, die Kopfschmerzen nach sich zogen. Um den Nachwuchs genau davor zu schützen, nutzt er im Kinder- und Jugendtraining schmalere Tore und steckt kleinere Felder ab, auf denen es sich weniger lohne, hohe Schüsse zu spielen – de facto also das, was der DFB künftig vorschreibt. Von sich aus vollständig auf Kopfbälle zu verzichten, wird der Fußballsport nicht, denkt Daniel Teufel. „Dafür bräuchte es schon ein Verbot und eine Regeländerung – dann wäre Fußball aber ein anderes Spiel.“
DFB hat Zweifel an Aussagekraft der Studie
Bedarf, die Regelungen zum Kopfballspiel angesichts der Erkenntnisse aus der schwedischen Studie zu verschärfen, sieht der DFB nicht: „Für den Kinderfußball in Deutschland wurden die richtigen Maßnahmen ergriffen.“ Zudem verweist der Fußballbund auf einen sorgfältigeren Umgang mit Gehirnerschütterungen in der Ersten und Zweiten Bundesliga. Was das für den VfB Stuttgart bedeutet, erklärt Mannschaftsarzt, Heiko Striegel: Bei jedem kritischen Kopfstoß schaue man sich den Vorfall auf Video an und achte auf die Kopfballtechnik, den Gegnerkontakt und die Vorhersehbarkeit des Kopfstoßes. „Im Zweifel nutzen wir bildgebende Verfahren und ziehen Neurologen zurate.“ Für Tim Meyer, Leiter der Medizinischen Kommissionen des DFB und der Uefa, bleiben bezüglich der schwedischen Studie offene Fragen. Der untersuchte Spielerpool reicht zurück bis 1924. Inwiefern die Ergebnisse eher den Fußball der Vergangenheit widerspiegeln und sich ausschließlich auf kumulierte Kopfbälle zurückführen lassen, ist für Meyer nicht klar.