Die Türkei hat gewählt. Recep Tayyip Erdogan bleibt an der Macht. Doch was macht das mit der Wahlbeobachterin Derya Türk-Nachbaur, der SPD-Bundestagsabgeordneten aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis?
Auch bei der Stichwahl war die Wahl-Bad-Dürrheimerin und überzeugte Sozialdemokratin aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis als Wahlbeobachterin des Europarats bei der Präsidentenwahl in der Türkei vor Ort. Was denkt sie als sehr moderne, äußerst emanzipierte Frau mit türkischen Wurzeln nun?
So nimmt sie die Gemütslage der jungen Türken wahr
Es war am Samstagabend, als Derya Türk-Nachbaur durch Ankaras Straßen streifte und gezielt versuchte, mit jungen türkischen Menschen ins Gespräch zu kommen. „Tatsächlich war die Hoffnung auf den Wechsel sehr sehr groß“, stellte sie dabei fest. „Sie sprachen von Meinungsfreiheit, die bald wieder herrschen werde, von Wissenschaftsfreiheit und von Möglichkeiten sich frei zu entfalten. Und am Sonntag wurde diese Hoffnung natürlich sehr gedämpft. Viele junge Türken hätten freiwillig als NGO oder Parteimitglieder der Opposition die Wahl überwacht – das ist in der Türkei nämlich möglich“.
Diese engagierten jungen Leute seien dankbar für die Wahlbeobachtung – und nun arbeiteten sie an ihrem „Plan B“, so Türk-Nachbaur. „Viele saßen auf gepackten Koffern. Sehr, sehr gut ausgebildete junge Menschen, vor allem im medizinischen Bereich oder im Ingenieurbereich warteten nur darauf, wie die Wahl ausgehen würde.“
Hoffnung auf Fachkräfte aus der Türkei kann Türk-Nachbaur den Deutschen auf dieser Basis aber nicht machen: „Das Zielland soll nicht Deutschland sein, das haben sie uns auch gesagt.“ Stattdessen solle es für sie vor allem in die USA, nach Kanada, Australien oder Neuseeland gehen. Bemerkenswert war die Antwort, die Türk-Nachbaur auf ihre Frage an eine Medizinerin erhielt, ob sie denn auch als Ärztin nach Deutschland kommen würde: „Nein, auch dort seien ihr zu viele Erdogan-Anhänger.“
Das Fazit der Wahlbeobachterin
Dennoch: Als Wahlbeobachterin blieb Türk-Nachbaur im Nachgang der Türkeiwahl die Feststellung, dass die Wahl sehr transparent organisiert gewesen sei – sie habe in ihrer Funktion lediglich Kleinigkeiten zu bemängeln gehabt, „das war alles nicht wahlentscheidend“ und sei im Abschlussbericht vermerkt worden. Bei der Auszählung der Stimmen der Auslandstürken habe es reichlich Gewusel gegeben, viele tausend Menschen hätten gleichzeitig „diese Millionen von Stimmen ausgezählt“, das sei beeindruckend gewesen. „Die Polizei konnte die Rangeleien, die dort entstanden sind, aber schnell beruhigen.“
Die schonungslose, persönliche Einschätzung
Und doch zieht die Sozialdemokratin schonungslos ein ernüchterndes Fazit zur Türkei-Wahl: „Mit Fairness hat das Ganze überhaupt nichts zu tun!“ Die Wahl habe nicht in einem Umfeld stattgefunden, das den demokratischen Grundprinzipien entspreche. „Präsident Erdogan hat all seine Macht dafür genutzt, um Wahlkampf für sich zu machen und seine Kontrahenten zu diskreditieren und zu verunglimpfen – 90 Prozent der Medien sind entweder Erdogan nahe oder die Sende-Anstalten gehören Familienangehörigen von ihm.“
Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu sei überhaupt nicht in diesen Medien vorgekommen – oder „wenn er vorkam, dann wurde er in Fake-Videos und Fake-Nachrichten diskreditiert.“ Er sei in die Nähe der terroristischen Organisation PKK gerückt worden – „und wir haben gesehen, es hat bei den Menschen leider gefruchtet“.
„Ich bin sehr enttäuscht, was diese Wahl angeht“, gibt Türk-Nachbaur zu. Die türkische Gesellschaft sei sehr gespalten, die Demokratie sei weitgehend abgebaut worden. Und sie mache sich „große Sorgen, was die wirtschaftliche Situation in der Türkei angeht“.
Welche Lehren lassen sich für Türk-Nachbaur ziehen?
Für Türk-Nachbaur steht fest: „Es ist an der Zeit, dass wir unsere künftige Türkei-Politik mal offen diskutieren!“ So werde der sogenannte Flüchtlingsdienst mit der Türkei dort „sehr, sehr kritisch diskutiert“.
In einem „so reichen Land wie Deutschland“ gehen Bürgermeister, Landräte und Ministerpräsidenten nach der Aufnahme von 1,1 Millionen Geflüchteten – meist Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine – auf die Barrikaden und bitten dringend um Unterstützung. In der Türkei lebten acht bis zehn Millionen Geflüchtete, da sei es „simpel herzuleiten“, dass „die Wut sich auch vor allem auf die Schwächsten konzentriert.“ Es werde nun darüber zu reden sein, wie man damit umgeht.