Eine Frau bettelt auf der Stuttgarter Königstraße. Foto: Piechowski

Immer mehr organisierte Banden in Stuttgart. Polizei kommt nicht an Drahtzieher heran.

Stuttgart - Verstümmelte Gliedmaßen, kniende Demutshaltung oder kleine Hunde: Die Innenstadt ist voller Bettler, die Mitleid erregen wollen. Erlaubt ist das in dieser Form nicht. Doch während die schwächsten Glieder der organisierten Banden auf der Straße kauern, kassieren die Hintermänner in der Heimat kräftig ab.

Der Anblick geht den Passanten durch Mark und Bein. Ein Mann sitzt auf der Königstraße und reckt ihnen den Stumpf seines amputierten Beins entgegen. Viele sehen weg, andere packt das Mitgefühl. Sie geben ihm Geld. Behalten wird er es höchstwahrscheinlich nicht. Viele der Bettler, die derzeit auf dem Weihnachtsmarkt und in der Innenstadt auftauchen, gehören zu organisierten Banden aus der Slowakei oder Rumänien. In einem unbeobachteten Moment taucht ein Komplize auf und nimmt ihnen das Geld ab.

"Die Hintermänner sitzen im Heimatland und kassieren ab. Denen geht's richtig gut", sagt Hans-Jörg Longin vom Stuttgarter Ordnungsamt. Die Behörde beobachtet seit Jahren eine Zunahme der organisierten Bettelei. Die Zahl der Fälle, in denen das Ordnungsamt einschreitet, hat sich von 21 im Jahr 2009 auf 42 im vergangenen Jahr verdoppelt. Diesmal, das steht bereits fest, wird der Anstieg ungebremst weitergehen.

"Es ist schwer, die Strukturen zu durchbrechen"

Betteln an sich ist in Stuttgart erlaubt. Das ändert sich allerdings, wenn Verletzungen zur Schau gestellt, Demutshaltungen angenommen oder gar Passanten angegangen werden. Das wertet die Stadt als unerlaubte straßenrechtliche Sondernutzung. Wer erwischt wird, bekommt einen Platzverweis für einen Tag. Hält er sich nicht daran oder fällt mehrfach auf, gibt es eine Anzeige und ein Bußgeld. Das erbettelte Geld wird eingezogen. Doch meist ist es nicht viel - der Komplize leert den Becher ja regelmäßig. "Ganz verwerflich ist das Betteln mit Kindern oder mit Jungtieren", sagt Longin. Kleine Hunde etwa würden bei der Gelegenheit auch verkauft. Der neue Besitzer handelt sich nicht selten sterbenskranke Tiere ein.

Besonders problematisch ist ein Phänomen, das das Ordnungsamt zuletzt verstärkt feststellte: Die Bettler kommen nicht allein. "Manchmal sind ganze Familien als Banden organisiert. Die einen betteln, die anderen begehen auf dem Weihnachtsmarkt Taschendiebstähle, und wieder andere brechen in Wohnungen ein", weiß Longin. Ein lukrativer Ausflug nach Deutschland. Nicht selten werden die Täter von den Hintermännern gezwungen. "Die Leute, die hier unterwegs sind, sind die ärmsten Teufel", sagt Longin und berichtet von einem Fall, in dem regelmäßig sechs Leute in einem Pkw übernachten mussten. Die Auftraggeber im Heimatland leben bequemer und ohne große Gefahr, erwischt zu werden.

Die Bekämpfung des Phänomens ist kompliziert. Das weiß auch die Polizei. "Es ist schwer, die Strukturen zu durchbrechen", sagt Sprecher Olef Petersen. Gerade in der Adventszeit sei der Trubel in der Innenstadt groß, alle wollten ein Stück vom Kuchen abhaben. Für Bettler und Taschendiebe eröffne sich da ein attraktives Betätigungsfeld. Und auch Einbrecher haben derzeit, schon allein durch die lange Dunkelheit bedingt, Hochkonjunktur. Die Polizei kontrolliert die Bettler ebenfalls und verfasst Anzeigen, allerdings nicht als Schwerpunkt.

Und was bedeutet all dies für den Passanten? Bestimmt nicht, dass er niemandem mehr etwas geben darf. "Es gibt sicher auch Bettler, die in einer Notlage sind", sagt Longin, ergänzt aber: "Für sie gibt es eigentlich genug staatliche Hilfen, sofern sie die annehmen wollen." Als Rat hat er parat, sich die Leute genau anzuschauen und "mit Augenmaß zu geben". Münchens Oberbürgermeister Christian Ude hat seine Mitbürger unlängst angesichts der angereisten Banden sogar aufgefordert, "kaltherzig" zu sein. So weit will aber Polizeisprecher Petersen nicht gehen: "Man sollte sich jeden Fall einzeln anschauen und dann entscheiden."