Nicht schlecht für einen 15-Jährigen: Auf Ulrich Binders Zeichnung sind drei Skelette zu erkennen – die Toten zwischen den zwei Steinlagen wurden um 500 vor Christus nachbestattet, darunter erkennt man einen dritten, den Binder als Erstbestattung aus der Zeit um 700 vor Christus ansah. Ob er es wirklich war, lässt sich heute nicht mehr klären. Foto: Schwarzwälder-Bote

Die Lautlinger Teller in der Stuttgarter Keltenausstellung gäbe es wohl nicht mehr, hätte der Finder sie nicht behalten

Von Martin Kistner

Albstadt-Lautlingen. Wer die Keltenausstellung im Alten Schloss in Stuttgart besucht, stößt gleich zu Beginn auf eine Vitrine mit drei großen, reich verzierten Keramiktellern. Zwei von ihnen gehören zusammen; der Fundort heißt Lautlingen.

Hinter der lapidaren Ortsangabe auf dem Täfelchen in der Ausstellung verbirgt sich eine gar nicht so untypische Grabungsgeschichte. Am 16. April 1938 benachrichtigte der Forstmeister Kaufmann den Ebinger Oberlehrer Heinrich Breeg, seines Zeichens Vertrauensmann des Landesamts für vor- und frühgeschichtliche Altertümer, dass er unmittelbar an der Markungsgrenze zwischen Lautlingen und Meßstetten einen Trupp Raubgräber bei ihrem ruchlosen Tun überrascht habe. Breeg, aufs Höchste alarmiert, eilte zum Tatort. Bei diesem handelte es sich um ein Ensemble von mehreren keltischen Grabhügeln im Gewann Kriegsäcker – heute ist es durch die Abzweigung zum Geißbühl überbaut – , die Breeg spätestens seit einem Jahr wohlbekannt waren: Schon im April 1937 war hier ein Grabhügel ausgeräumt worden, und zwar, wie sich nun herausstellte, vom selben "Mann" wie diesmal – einem 16-jährigen Gymnasiasten!

Ulrich Binder, Sohn eines Stuttgarter Syndikus, pflegte, seit er 13 war, in den Ferien seiner großen Leidenschaft zu frönen, der Archäologie, und wenn er auch nicht mit allen wissenschaftlichen Wassern gewaschen war, ging er doch mit einer Umsicht und Sorgfalt, die heute noch Respekt abnötigen – von seinem Tatendrang ganz zu schweigen. Die Lautlinger Kriegsäcker waren bereits seine vierte "Wirkungsstätte": Wie Binder in einer 1949 verfassten Schrift bekannte – die Einleitung trug den Titel "Was mich bewog, die Ruhe der Toten zu stören, und wie ich es anstellte" – , war er im Sommer 1934 am Stuttgarter Hasenberg erstmals auf Schatzsuche gegangen und im April 1936 im Ebinger "Rauhen Wiesle", wo heute die Sparkassenfiliale Raidenstraße steht, erneut auf den Spuren des Troia-Ausgräbers Heinrich Schliemann gewandelt. Er hat also mehrfach in Heinrichs Breegs Revier "gewildert", was dessen Ärger und in mehreren Behördenbriefen erhobene Forderung nach einer Bestrafung des – so Breeg – "Attentäters" erklärt. Stattgegeben wurde ihr übrigens nicht. Dafür fehlte in Württemberg damals noch die Rechtsgrundlage in Gestalt eines Grabungsgesetzes.

Die Teller, die derzeit in Stuttgart gezeigt werden, fand Binder bei seiner ersten Lautlinger "Grabungskampagne". Die hat er mit einer Akkuratesse dokumentiert, die man von einem 15-Jährigen nicht erwarten würde: Wie aus den Zeichnungen, die er anfertigte, zu ersehen ist, hatte er in den unteren Grabungshorizonten des Hügels die Überreste von fünf Skeletten entdeckt – eines am Ostrand des Hügels, die anderen vier in der Mitte, und zwar paarweise "gestapelt". Von den beiden zuoberst liegenden Skeletten trug eines einen Armreif und einen Haarring aus Bronze, der abseits ruhende Tote war mit Bronzefibeln ausgestattet.

Ein Meißner-Service aus der frühen Eisenzeit

Die Schmuckstücke stammen aus der ausgehenden Hallstattzeit um 500 vor Christus – und sind damit rund 200 Jahre jünger als das Prunkgeschirr aus Ton, das direkt nebenan in der Osthälfte des Hügels aufgereiht war: vier voluminöse Kegelhalsgefäße, zwei Eimer – sogenannte Situlen – und drei Teller. Einer war klein, die beiden anderen große, tiefe, "getreppte" Schalen, bemalt mit rotem Tonschlicker und verziert mit eingeritzten Stern-, Dreiecks- und Rautenmustern, schwarzen Graffitierungen und weißen Kalkinkrustierungen: ein Meißner-Service der Alb-Hegau-Keramik, die in der frühen Eisenzeit in Südwestdeutschland en Vogue war.

Diese beiden Prachtteller stehen nun in Stuttgart in der Vitrine – und haben nach 2700 Jahren endlich das Publikum, das sie verdienen. Denn dass sie in der Zeit, in der sie entstanden, die Tafel des damaligen Meßstetter Bürgermeisters zierten, kann man ausschließen: Der Brand ist nicht besonders hart; für den Alltagsgebrauch waren die Lautlinger Schalen untauglich. Sie wurden vermutlich eigens für die Beisetzung gefertigt; darauf deutet auch der Umstand hin, dass sie erkennbar eine Schauseite haben: Schräg von oben betrachtet kommt ihr Dekor am besten zur Geltung. Wem sie auf die letzte Reise mitgegeben wurden, wird man wohl nie erfahren; dass es der zuunterst liegende Herr im Grabhügel war, ist eine Spekulation Binders. Rainer Kreutle, Denkmalpfleger am Regierungspräsidium Tübingen, schließt nicht aus, dass alle Skelette Nachbestattungen aus späteren Jahrhunderten sind und es sich bei der ersten Beisetzung um eine Brandbestattung handelte, die der blutjunge Laie Binder nicht zu identifizieren wusste.

So oder so, er hat, auch wenn Heinrich Breeg das anders sehen musste, der keltischen Archäologie in Württemberg einen Dienst erwiesen: Die Funde seiner ersten Grabung im Gewann Kriegsäcker hat er nämlich seinerzeit behalten; sie gelangten 1988 aus seinem Nachlass in den Besitz des Landesmuseums. Was bei der zweiten zu Tage kam, schickte Breeg dagegen schon 1938 nach Stuttgart. Es wurde im Alten Schloss eingelagert – und verbrannte 1944 bei einem Luftangriff. Auch Raubgrabungen können ihr Gutes haben.

Weitere Informationen: Die Ausstellung "Die Welt der Kelten" im Alten Schloss und Kunstverein in Stuttgart ist noch bis übermorgen zu sehen und von 10 bis 20 Uhr geöffnet. Mit Warteschlangen muss gerechnet werden.