Auf der "Sultan of the Sea" liegen die Nerven blank – hier streiten sich zwei Passagierinnen, Mutter und Tochter. Foto: Raab Foto: Schwarzwälder Bote

Literaturtage: ... und auch in "Passagier 23" tauchen Totgeglaubte wieder auf

Albstadt-Tailfingen. Mal kurz durchzählen … alle noch da? Gott sei Dank ist während der Aufführung von Sebastian Fitzeks "Passagier 23" im nahezu ausverkauften Tailfinger Thalia-Theater niemand verschwunden. Selbstverständlich ist das nicht: "Passagier 23" handelt von einer Kreuzfahrt, und auf Kreuzfahrten, kaum zu glauben, verschwinden alljährlich durchschnittlich 23 Menschen und lassen ihre Angehörigen nicht selten in der Ungewissheit darüber zurück, was eigentlich passiert ist. Denn noch nie ist einer von ihnen zurückgekommen.

Bis jetzt. Aber nun ist alles anders: Plötzlich taucht die kleine Anouk, die vor einem halben Jahr mit ihrer Mutter Naomi von Bord des Kreuzfahrtschiffes "Sultan of the Seas" verschwand, wieder auf. Ausgerechnet Polizeipsychologe Martin Schwartz soll sich Anouks annehmen, obwohl er geschworen hat, nie wieder einen Fuß auf ein Schiff zu setzen, seit vor fünf Jahren seine Frau und sein Sohn spurlos von eben jener "Sultan of the Seas" verschwanden. Kein Mensch hatte etwas gesehen, der von der Polizei angenommene Suizid schien die plausibelste Erklärung zu sein. Doch jetzt ist der Teddy seines Sohnes zurückgekehrt – und zwar ausgerechnet in den Armen von Anouk!

Was folgte, sind schnelle Szenenwechsel – im Film würde man "Cuts" sagen – ; Unaufmerksamkeit kann sich der Zuschauer nicht leisten. Christian Scholze hat Fitzeks Buchvorlage gekonnt für die Bühne bearbeitet, und das zehnköpfige Ensemble des Berliner Kriminaltheaters setzt sie unter der Regie von Thomas Wingrich fesselnd und beklemmend zugleich in Szene. Die Ortswechsel vollziehen sich dank einem faszinierend sparsamen Einsatz bühnenbildnerischer Mitteln in Sekundenschnelle; der nicht enden wollende Alptraum spielt mal auf dem Oberdeck, dann wieder in der Kapitänskajüte oder im finsteren "Hell’s Kitchen" im Unterdeck des Schiffes. Dort wird die traumatisierte Anouk von der Ärztin Elena Beck betreut, während ein maskierter Kidnapper ihre Mutter Naomi unter Deck gefangen hält. Es geht es um sexuellen Missbrauch, um Rache und Sühne; immer finsterere Abgründe öffnen sich vor dem Auge der Zuschauer, inszeniert mit düsterer Brillanz von Schauspielern, die ihr Handwerk verstehen – man meint am Ende, selbst an Bord der "Sultan of the Seas" zu sein.

Dazu trägt die immer gleich bleibende Kulisse das Ihre bei: Ein riesiges Bullauge passt sich mit Hilfe von Filmsequenzen der jeweiligen Szene an. Das Ensemble agiert wie aus einem Guss, angefangen bei Silvio Hildebrandt, der Martin Schwartz mimt. Pauline Stöhr und Alexandra Johannknecht verkörpern Anouk und Naomi Lamar, André Zimmermann weiß in der Doppelrolle von Kapitän und Reeder zu überzeugen, und Alejandro Ramón Alonso, Charlotte Neef, Janine Gaspár und Peter Dulke gehen in ihren Rollen als Täter, Opfer, Ermittler und scheinbar Unwissende auf, und Kristin Schulze sorgt als Schiffsärztin für das Überraschungsmoment. Fazit: "Passagier 23" hatte einen Abend voller Düsternis und Spannung versprochen – und dieses Versprechen wurde in vollem Umfang eingelöst.