Der Briefwechsel mit den Eltern, später nur noch der Mutter endet 1962 mit deren Tod. Die Briefe begannen stets mit der Anrede "Liebe Leute" und schlossen mit "Gruß Wolf"; einer der frühesten von denen, die Jehle vorstellte, entstand im August 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Hildesheimer sah ihn kommen: "Obwohl die unmittelbare Gefahr im Augenblick nicht so stark ist, muss es doch bald losgehen. Und es ist auch gut so, denn so kann es ja nicht mehr weiter gehen." Einer der wenigen Briefe, die Hildesheimer innerhalb von Palästina verschickte, handelt von den spanischen Stiefeln, in denen sich der junge Maler als Reklamezeichner wiederfand, ein anderer, im April 1947 in Nürnberg verfasst, beschreibt die Larmoyanz der besiegten Deutschen, die sich nur als Opfer sehen: "Die Deutschen sind ein trauriges Kapitel [...] Gesellschaftlicher Verkehr mit ihnen ist dadurch beschwert, dass sie sich so entsetzlich leid tun, was in so unwürdiger Weise zu Tage tritt, dass man sich beschämt fühlt, dass man nicht selbst den Krieg angezettelt hat."
Der letzte Brief des Abends entstand am 25. Januar 1950 im oberbayerischen Ambach und schildert eine Situation, über deren Bedeutung sich der Schreiber damals vermutlich selber nicht ganz im Klaren war: den Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn. "Gestern hat mich die Kälte zum Jugenddichter gemacht, denn es war im Atelier so kalt, dass ich am Fenster nicht arbeiten konnte, aber am Ofen ist es nicht hell genug, und so schrieb ich stattdessen eine Geschichte für Kinder, die sehr schön geworden ist." Die antike Literatur kennt den Topos der Dichterweihe; hier hat Wolfgang Hildesheimer, ohne es zu ahnen, seine beschrieben. Der Schriftsteller war geboren – und die Lesung zu Ende.
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